Der männliche Makel: Roman (German Edition)
alles so einfach und machbar. Mein Gott, sagte er sich, diese Frau ist besser als jeder Bewährungshelfer, wenn es darum geht, einen aufzumuntern und einen dazu anzuleiten, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
»Wissen Sie was, Jake?«, fuhr sie mit zunehmender Begeisterung fort. »Sie könnten sich für eine Stelle als Englischlehrer für ausländische Studenten bewerben. Entweder als Privatlehrer oder an einer der vielen Sprachenschulen, die derzeit in dieser Stadt wie Pilze aus dem Boden schießen. Schließlich ist das Bildungswesen der einzige rezessionssichere Wirtschaftszweig«, sprach sie aufgeregt weiter. »Ich würde jede Wette eingehen, dass Sie etwas finden, vielleicht sogar Teilzeit, und zwar ohne Probleme. Da bin ich ganz sicher. Ich könnte Ihnen auch Empfehlungsschreiben beschaffen. Wir peppen Ihren Lebenslauf ein wenig auf«, ergänzte sie, als sei es bereits beschlossene Sache. »Ihren Aufenthalt hier brauchen wir ja nicht zu erwähnen. Wir behaupten einfach, Sie hätten einige Zeit im Ausland verbracht. Niemand wird es erfahren. Ich helfe Ihnen dabei. Und in Ihrer Freizeit könnten Sie dann weiter an Ihrem Abschluss arbeiten. Wer weiß, was für wundervolle Möglichkeiten Ihnen dann offenstehen? Also, was meinen Sie?«
Jake antwortete nicht, sondern lauschte nur, während er von einem völlig unbekannten Gefühl ergriffen wurde. Er konnte es nicht gleich beim Namen nennen, doch als er später in seiner Zelle genauer darüber nachdachte, wurde ihm klar, was es war. Schlicht und ergreifend Hoffnung. Sie hatte ihm eine Rettungsleine zugeworfen.
Und er wäre ein Idiot gewesen, wenn er sich nicht daran geklammert hätte wie ein Ertrinkender.
So war sie also, die Freiheit. Zum ersten Mal seit zwei Jahren war Jake niemandem mehr rechenschaftspflichtig als sich selbst. Es war eine völlig neue Welt, berauschend, beglückend genug, um davon high zu werden, wenn er den Drogen nicht schon vor Jahren abgeschworen gehabt hätte. Er fühlte sich unbesiegbar. Wie William Wallace, gespielt von Mel Gibson, am Ende des Films Braveheart . Am liebsten hätte er nur wieder und wieder aus voller Kehle dasselbe Wort gerufen … Freiheit.
Seltsam, was einem so fehlte, wenn man einsaß. Jeder der Jungs drinnen hatte eine andere Antwort auf diese Frage. Einige vermissten ihre Ehefrauen, Freundinnen und Kinder. Bei manchen waren es Kleinigkeiten wie die Möglichkeit, am Sonntagnachmittag in einen Pub zu gehen, ein Bier zu bestellen, die Zeitung zu lesen und vielleicht im Fernsehen ein Fußballspiel anzuschauen. Für Jake war es vor allem das Alleinsein gewesen, ein unglaublich kostbares Gut, wie er nun wusste. Im Knast war man keine Sekunde allein. Selbst unter der Dusche wurde man beaufsichtigt und rund um die Uhr überwacht. Er schwor sich, dieses Privileg für den Rest seines Lebens wertzuschätzen.
Und nun führte Jake Keane tatsächlich ein anständiges bürgerliches Leben. Er fühlte sich noch immer wie in einem Traum und konnte sein Glück nicht fassen. Wenn ihn Zweifel überkamen, rechnete er jeden Moment damit, dass ihn jemand auf die Schulter tippte, mit einem Anruf alter Bekannter oder einem mitternächtlichen Hämmern an die Wohnungstür. Damit, dass die Vergangenheit ihn einholte. Doch er tat sein Bestes, diese Sorgen beiseitezuschieben und sich stattdessen auf die schönen Dinge des Lebens zu besinnen.
Jake schuldete Eloise so viel. Er war ein stolzer Mann und es nicht gewohnt, dass ihm jemand ohne Hintergedanken half und nichts dafür verlangte. Dennoch schwor er sich, einen Weg zu finden, sich erkenntlich zu zeigen, koste es, was es wolle.
Da war zuerst einmal diese wunderschöne Wohnung, die ihm nun zur freien Verfügung stand. Die Miete hielt sich im Rahmen, sodass er sie sich gerade noch leisten konnte. Zugegeben, die Wohnung war winzig, ein Einzimmerapartment in einem der neuen Hochhäuser in der Sandymount Road, doch Jake fühlte sich, als nenne er die Penthouse-Suite des Ritz Carlton sein Eigen. Ein unbeschreiblicher Luxus, wie er ihn sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte. Endlich wurde er nicht mehr ständig, sogar im Schlaf, durch den Spion in seiner Zellentür beobachtet. Hier in seiner kleinen Wohnung war er absolut frei.
Er konnte tun und lassen, was und wann er wollte. Zum Beispiel lange, einsame Spaziergänge am Sandymount-Strand unternehmen, wenn er Lust dazu hatte, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Keine gellenden Sirenen, die vor einer ausbrechenden
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