Der männliche Makel: Roman (German Edition)
Schlägerei in einem entfernten Zellenblock warnten, was Einschluss für alle anderen hieß. Keine festgesetzte Schlafenszeit, während draußen kleine Kinder auf den noch hellen, sonnigen Straßen spielten. Keine Handschellen, Sicherheitstore alle fünf Meter oder klappernde Schlüsselbunde. Nur er allein. Manchmal fühlte er sich vor schierer Glückseligkeit wie betrunken.
Endlich war er ein richtiger Erwachsener, der ein normales Leben vor sich hatte, etwas, an das er noch vor wenigen Wochen nicht zu denken gewagt hätte. Nun durfte er es nur nicht vermasseln.
Immer wieder erstaunte Eloise ihn mit ihren überraschenden freundlichen Gesten, die typischerweise brüsk und sachlich ausfielen. Eigentlich hatte er nicht erwartet, sie je wiederzusehen. Sobald er die Wohnung bezogen und ihr eine Monatsmiete und die Kaution für ihre Schwester übergeben hatte, hätte sie genau genommen keinen Kontakt mehr mit ihm zu halten brauchen. Und trotzdem kam sie immer wieder. Nur, um nett mit ihm zu plaudern und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. In letzter Zeit schaute sie zu den merkwürdigsten Uhrzeiten bei ihm vorbei. Zum Beispiel spätnachts, wenn sie endlich Feierabend machte, oder am Wochenende frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit.
Anfangs blieb sie nie länger als eine halbe Stunde, nur um zu sehen, wie er mit seinem Lebenslauf vorangekommen war und bei welchen Sprachenschulen er sich bewarb. Wie eine Lehrerin, die die Hausaufgaben kontrolliert. Und als ob sie nicht schon genug für ihn getan hätte, half sie ihm auch dabei. Sie hatte auf ihrem Computer im Büro seinen Lebenslauf aufpoliert und ihn auf eine Weise ausgeschmückt, wie es ihm nie eingefallen wäre, indem sie alles, was er in Wheatfield gelernt hatte, als besondere Fähigkeit darstellte.
Deshalb fand sich in der Rubrik »Interessen und Hobbys« nun eine bemerkenswerte Liste von Schreinern bis hin zu Kochen und sogar Metallarbeiten. »So wird die Sache griffiger. Sie machen sich auf diese Weise interessanter, dreidimensionaler.« Das verkündete sie mit der Überzeugungskraft einer Frau, die im Laufe ihrer Karriere Tausende von Lebensläufen gelesen hatte.
Sie riet ihm, sich einen Bibliotheksausweis zu beschaffen, damit er sich die Bücher ausleihen konnte, die er brauchte, um für die Abschlussprüfung in Englisch und Psychologie zu lernen. Dann suchte sie ihm die Sprachenschulen heraus, die, wie ihr zu Ohren gekommen war, dem Studentenansturm nicht mehr gewachsen waren, und meinte, er solle sich zuerst dort bewerben, da Aushilfslehrer sicher dringend gebraucht wurden.
Er nahm ihre Tipps gerne an und stellte zu seiner Überraschung fest, dass seine Tage bald erfüllter und vollgestopfter mit Terminen waren, als er je zu träumen gewagt hätte. Morgens stand er früh auf, machte sich ein richtiges warmes englisches Frühstück (wer drinnen gewesen war, konnte kochen, weil jeder Häftling mindestens drei Monate im Jahr in der Gefängnisküche arbeiten musste, und was man einmal gelernt hatte, vergaß man nicht so schnell) und setzte sich an die Bücher.
Stunde um Stunde verbrachte er an seinem kleinen Schreibtisch in seinem Einzimmerapartment, brütete, eine Tasse Kaffee neben sich, über seinen Lehrbüchern und kam sich vor wie ein richtiger Student. Er fühlte sich so absolut privilegiert, denn alle Chancen, die er als Kind und Jugendlicher nie gehabt, und alle Gelegenheiten, die er verpasst hatte, waren auf wundersame Weise zu ihm zurückgekehrt wie ein Bumerang.
Im Laufe seiner Prüfungsvorbereitungen hatte er auch etwas über das Damoklesschwert gelesen, und wenn er sich elend fühlte, spiegelte das Bild sein eigenes Befinden wider. So als ob jeden Moment der Himmel über ihm einstürzen könnte.
Wie es bis jetzt gewesen war.
Hoffentlich war es nicht nur eine Frage der Zeit.
Kapitel sieben
Eines Abends hatte Jake in seiner Wohnung in Sandymount lange über den Büchern gesessen und stellte plötzlich fest, dass er großen Hunger hatte. Gerade fing er an, sich Reis mit Hühnchen und Gemüse zu machen, als es an der Tür läutete. Eloise wollte ihm die endgültige Fassung seines überarbeiteten, korrigierten und versandfertigen Lebenslaufs vorbeibringen.
»Kommen Sie rauf«, sagte er. »Die Tür ist offen.«
Es war eine dieser unangenehm regnerischen Nächte, wie es sie manchmal mitten im Frühling gibt. Da es sich eher nach November als Mai anfühlte, hatte Jake schon vor Stunden ein Feuer angezündet und neben den warmen, flackernden
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