Der männliche Makel: Roman (German Edition)
Herzschlag setzt aus.
»Ich bin nur die Babysitterin«, erwidert Helen.
»Und wie alt ist sie? So um die drei, schätze ich.«
»In ein paar Wochen. Wie kommst du darauf?«
»Ich habe einen Neffen in diesem Alter. Allerdings ist er nicht so niedlich wie Lily.«
Eine beklommene Pause entsteht, die noch dadurch verschlimmert wird, dass ich wortlos dastehe. Inzwischen schwitze ich Blut und Wasser und weiß nicht, was ich tun soll, um die Lage nicht noch zu verschlimmern. Das ist Lilys Cousin, ist mein einziger Gedanke. Und das, während Lily ständig quengelt, sie hätte gerne einen kleinen Cousin, mit dem sie spielen kann. Das Tragische daran ist, dass sie einen hat und es nur nicht weiß.
Doch die Tortur scheint endlich ausgestanden zu sein. Im nächsten Moment nickt und lächelt Jake und wünscht uns einen wunderschönen Nachmittag. Eine Sekunde später sind er und The Girl from Ipanema verschwunden.
Völlig erledigt lasse ich mich wieder auf die Decke fallen und kippe nicht nur den Rest von meinem Pimm’s hinunter, sondern auch den von Helens.
»Oh mein Gott, der sieht ja phantastisch aus … das hast du nie erwähnt!«, sagt Helen und blickt ihm verträumt nach.
»Ich weiß ja nicht, wie es bei dir ist«, stoße ich mühsam hervor. Ich stehe noch immer unter Schock und bin leichenblass, und die Schweißperlen rinnen mir langsam von den Achselhöhlen den Brustkorb hinunter. »Aber ich bin gerade um zwei Jahre gealtert. Und jetzt entschuldige mich bitte, während ich einen Herzinfarkt kriege.«
Als ich, mit sonnenverbrannter roter Nase und Gras an den Absätzen, endlich in die Redaktion komme und im Erdgeschoss in den Lift steige, bin ich fast eine ganze Stunde zu spät dran. Doch zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn ist mir das völlig egal.
Helen hat recht. Ich muss Jake alles gestehen, denke ich. Meine Gedanken überschlagen sich. Die Situation von gerade eben kann und will ich nicht noch einmal durchmachen … Drückebergerei oder Verzögerungstaktik gilt nicht, nur weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, seine Gesellschaft zu genießen. Ich muss den Stier bei den Hörnern packen und die Sache endlich in Angriff nehmen. Kein Herumlavieren und Vorsichherschieben mehr. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, schenke ich ihm reinen Wein ein. Er wollte sich doch dieses Wochenende mit mir treffen. Natürlich werde ich mir zuvor mit einigen Gläsern Pinot Grigio Mut antrinken müssen, aber was soll’s …
Im nächsten Moment bemerke ich, dass der Lift nicht im vierten Stock gestoppt hat, wo sich mein Büro befindet. Stattdessen saust er weiter hinauf, bis in die oberste Etage zu den Tyrannosauriern. Mist. Wieder drücke ich kräftig auf den Knopf für mein Stockwerk, während ich verzweifelt versuche, mich zu beruhigen und mich aufs Ein- und Ausatmen zu konzentrieren. Dabei überprüfe ich, ob ich nach Alkohol rieche, und pflücke mir die Grashalme von den Absätzen. Nach einem großen Schluck Rescue-Tropfen fühle ich mich ein wenig besser. Das heißt, zumindest haben meine Hände aufgehört zu zittern, und der Schwindel legt sich langsam, aber sicher.
Wenn du ihn das nächste Mal siehst, nehme ich mir fest vor. Bring es hinter dich. Ganz gleich, was dabei herauskommt. Alles wird gut, sage ich mir beschwichtigend. Ich bin in der Redaktion. Es ist vorbei. Ich kann wieder ruhig atmen.
Wie bei Tiffany’s in New York kann mir hier nichts zustoßen.
Ruckartig hält der Aufzug in der Etage der Tyrannosaurier. Wieder ein leichter Anflug von Panik, doch ich zwinge mich zur Ruhe. Schließlich haben wir Samstagnachmittag. Also sind die Chancen, dass sich ein Vorstandsmitglied hier anstatt auf dem Golfplatz herumdrückt, ziemlich gering … oder?
Aber dann, mit einem Krachen, dass mir fast das Herz stehen bleibt, öffnen sich die Türen, und hereinkommt … oh mein Gott, nein …
Doch. Kein anderer als Sir Gavin Hume, unser geschätzter Vorstandsvorsitzender, ein gewichtiger, rotgesichtiger, sehr von sich selbst überzeugter Mittsechziger, der als Gorbatschow der Printmedien gilt. Allgemein beliebt und geschätzt. Würdevolles Äußeres und – wie wir alle wissen – ein rechter Geizkragen. Außerdem eilt ihm der Ruf voraus, dass er, wie man es früher höflich ausgedrückt hat, ein Freund der Damenwelt ist. Frauenheld würde es besser treffen. Allerdings muss ich ihm zugutehalten, dass er immer fair zu mir war und in vielen Auseinandersetzungen Partei für mich ergriffen hat.
»Ah, Madame
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