Der männliche Makel: Roman (German Edition)
gehe, muss ich zugeben … ja, die Gespräche mit ihm würden mir fehlen. Ich würde es vermissen, ihn nach seiner Meinung zu fragen und ihm die Tausenden kleinen, anstrengenden Einzelheiten, die meinen Durchschnittstag ausmachen, in allen Details zu schildern. Es überrascht mich selbst, wie sehr es mir das Herz in der Brust zusammenkrampft, wenn ich daran denke, dass ich ihn nach dem heutigen Tag vielleicht niemals wiedersehe. Es würde mir fehlen, dass er mich anruft und mir erzählt, wie es heute in der Sprachenschule war. Es würde mir sogar fehlen, über die grausigen Foltermethoden zu kichern, die er sich für Seth Coleman ausdenkt, weil der mir weiter tagtäglich auf die Nerven fällt.
Schlagartig wird mir klar, wie abhängig ich inzwischen von Jake bin. Wie ich mich auf ihn verlasse. Ausgerechnet ich, die immer damit geprahlt hat, ich sei eine Insel, auch wenn es außer mir sonst niemand sei.
Heute ist der Tag X. Showdown. Da heute Sonntag ist, hatte ich eigentlich am Nachmittag mit Lily in einen Disney-Film gehen wollen, mit dem sie mir schon seit einer Weile in den Ohren liegt. Ich wollte Jake fragen, ob er mitkommen will, damit Lily und er sich besser kennenlernen. Doch auf Helens weisen Rat hin habe ich es mir anders überlegt.
»Ich fürchte, es könnte zu früh sein. Für ihn und vor allem auch für Lily«, entgegnete sie. »Triff dich besser allein mit ihm und schenk ihm reinen Wein ein.«
»Leichter gesagt als getan. Und was dann?«
»Schau, wie er darauf reagiert, und verhalte dich dementsprechend. Falls er Kontakt mit Lily haben möchte, und nur dann, kannst du es ihr sagen. Meinst du nicht? So verhinderst du wenigstens, dass sie enttäuscht wird. Vergiss nicht, dass wir noch nicht wissen, ob er etwas mit ihr zu tun haben will. Also geh erst mal auf Nummer sicher, oder?«
Um vier Uhr nachmittags schieben Helen, Lily und ich uns mit den Menschenmassen aus dem Multiplex-Kino. Lily singt aus voller Kehle und fordert wie immer ein Eis, als mein Telefon läutet. Natürlich ist es die Redaktion, die mein sofortiges Erscheinen fordert, weil es ein Problem gibt.
Verdammt, so viel zu meiner kostbaren Zeit am Sonntagnachmittag, die ich mit meinem Kind verbringen möchte. Widerstrebend setze ich Lily und Helen zu Hause ab und rase ins Büro. Unterwegs rufe ich, immer noch fest entschlossen, Jake an und verabrede mich zum Abendessen mit ihm. Er hat mir gestern Abend bereits einige Nachrichten hinterlassen, die ich zu meiner Schande noch nicht beantwortet habe. Es ging nicht, da ich mir überlegen musste, was zum Teufel ich tun soll.
»Ach, ich würde ja gerne«, sagt er. »Aber ich habe um acht einen Abendkurs. Ich könnte dich allerdings vorher von der Arbeit abholen, damit wir schnell etwas essen gehen können. Klappt das bei dir?«
Ich erwidere, das sei in Ordnung, obwohl es das eigentlich nicht ist. Ich hätte gern den ganzen Abend Zeit, um mit ihm zu reden, ohne dass er ständig auf die Uhr sieht. Doch es ist besser als nichts. Er ist einverstanden, in der Redaktion vorbeizuschauen. Also gut. Alles ist vorbereitet.
Zwei Stunden später steht Jake in meinem Büro. Er grinst breit und hat, ach herrje, einen riesigen Strauß Lilien, meine Lieblingsblumen, in der Hand. Einerseits erhellt sich meine Stimmung, da ich mich wirklich freue, ihn zu sehen. Doch ich werde auch ein wenig nervös, weil ich weiß, was jetzt gleich kommt. Und weil ich eine Todesangst davor habe.
Nun ist er da. Und es gibt kein Zurück.
»Hallo«, sagt er. Er ist so kräftig gebaut, dass er beinahe den Türrahmen ausfüllt, und sieht auf seine lässige, zerzauste Art umwerfend aus.
»Hallo.«
»Die sind für dich«, meint er und drückt mir die Blumen in die Hand.
»Sie sind wunderschön, Jake. Danke.«
»Komm. Ich habe diese Woche mein Gehalt gekriegt und lade dich jetzt zum Abendessen in das schickste Restaurant ein, das wir finden können.«
Zwanzig Minuten später sitzen wir an einem gemütlichen Tisch für zwei im Ciao Bella, einem reizenden italienischen Bistro, nur zehn Fußminuten entfernt von der Redaktion. Heute Abend ist nicht viel los, was mir gut ins Konzept passt. Angesichts dessen, was ich ihm zu beichten habe, ist es sicher besser, wenn wir ungestört sind. Wir bestellen, und während wir warten, denke ich … verdammt, tu es endlich. Los. Bring es hinter dich.
Aber … ich schaffe es einfach nicht. Stattdessen sitze ich schweigend da, betrachte ihn und zermartere mir das Hirn darüber, wo ich nur
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