Der Magier von Fairhaven
Ziel der Ordnung aber ist der absolute Stillstand, wenn alle Teile eines Ganzen in vollkommener, unveränderlicher Ordnung zusammengefügt sind.
Doch das ungezügelte Chaos ist dem Wohlergehen eines Landes so abträglich wie die ungezügelte Ordnung, und die Zügellosigkeit der Menschen kann nur erfolgreich bekämpft werden, wenn ein durch Ordnung gebundenes Chaos zum Zuge kommt.
Direkt auf den Menschen angewandt, führt die Ordnung zur Behinderung, wenn nicht zur Zerstörung der Lebensgeister, die von der Flamme des Chaos genährt werden, von der Sonne selbst.
Ein Land, das ans Chaos gebunden ist, kommt möglicherweise nicht zu Wohlstand, aber es wird sich nicht selbst zerstören, weil das Chaos wie das Leben ist. Ein der Ordnung verpflichtetes Land muss jedoch am Ende sich selbst und seine Nachbarn zerstören, denn die Ordnung ist wie das Eis des Nordens in den großen Frostzeiten. Sie sucht immer mehr und immer stärkere Ordnung zu sammeln, bis nichts mehr lebt, was sich in ihrer Reichweite befindet.
Ein großer Magier muss stets danach streben, das Chaos zum Wohle seines Landes einzusetzen, also für Wachstum und Veränderung und gegen die Todeskälte der Ordnung. Niemals darf er sich der Ordnung unterwerfen, denn die Ordnung wird seinen Geist vergiften und ihn in eine leere Hülle dessen verwandeln, was er einmal war, leer wie eine mächtige Stadt, in der keine Menschenseele mehr lebt, leer wie ein Samenkorn ohne Keim, leer wie ein Herd ohne Feuer … .
Die Farben der Weiße (Handbuch der Gilde von Fairhaven)
Zweiter Teil
XXXVI
I n seinem privaten Studierzimmer nutzte Cerryl die Zeit, während er auf Teras wartete, indem er sich mit dem Spähglas umschaute. Die silbernen Schleier im Glas teilten sich und zeigten ihm Leyladin, die im Vorraum der Hallen der Magier in Fairhaven stand. Bei ihr war die dunkelhaarige Lyasa. Die Freundinnen unterhielten sich ruhig, die Worte wurden nur von wenigen Gesten unterbrochen. Auf einmal drehte Leyladin den Kopf etwas herum und lächelte kurz. Cerryl wusste, dass sie seine Gegenwart gespürt hatte. Als auch Lyasa kurz die Augenbrauen hob, wandte Cerryl den Blick wieder ab.
Er ließ das Spähglas auf dem Tisch liegen und ging durch den Bogengang ins Wohnzimmer, um aus dem Fenster zu sehen. Kälte strahlte von den beschlagenen Scheiben aus, eisige Kälte, auch wenn in den letzten Tagen nur wenig Schnee gefallen war.
. Die Straße jenseits der Einfriedung und der Tore war im Augenblick verlassen. Cerryl schauderte, obwohl ihm nicht kalt war. Er dachte an die Lanzenreiter, die bestraft worden waren, und an die Einheimischen, die für ein paar Kupferstücke arbeiteten – trotz des Lohns im Grunde zwangsverpflichtet –, um die Mauern und Tore Elpartas instand zu setzen.
In einem Augenblick war Elparta noch eine blühende Stadt am Fluss gewesen, im nächsten nichts als ein Trümmerhaufen. Warum? Weil die Herrscher sich nicht einig wurden … weil die Gilde existieren will und weil Leuten wie Rystryr, Syrma und Estalin an Goldstücken in der Börse mehr gelegen war ‚als am Wohlstand ihres Volkes. Und was war mit Anya und Jeslek? Waren sie anders, nur weil sie Macht statt Geld wollten? Und die Händler, wie Jiolt und Muneat?
Cerryl schnaubte leise. »Die Verlockung der Macht ist die, dass man glaubt, man täte es zum Wohl des Landes, während man es in Wahrheit nur für sich selbst tut.«
»Ser?«, fragte der Lanzenreiter, der im Vorraum stand.
»Nichts. Nur ein Magier, der laut nachgedacht hat.« Als ob es eine Rolle spielte, als ob du jemals eine solche Macht haben könntest. Er schüttelte den Kopf. Du machst dir etwas vor. Du hast Macht, wenngleich nicht so viel wie Jeslek. Aber selbst die beschränkte Macht, über die er verfügte, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Er wollte die Stadt wieder aufbauen und für Ruhe und Ordnung sorgen. Die Lanzenreiter – wenigstens einige unter ihnen – hassten ihn dafür, und die Einheimischen hassten ihn, weil er ein Vertreter Fairhavens war.
Und keiner von ihnen hatte wirklich begriffen, was Fairhaven auszeichnete. Das ist kein Wunder. Selbst unter den Mitgliedern der Gilde gibt es viele, die es nicht verstehen.
Teras kam in den Flur getrampelt und schloss hinter sich die dunkle Holztür. »Verzeihung, dass es so lange gedauert hat, Ser.«
»Schon gut.« Cerryl wartete, bis der große Lanzenreiter seine Reitjacke im Vorraum an einen Haken gehängt hatte, dann drehte er sich um, kehrte ins Studierzimmer zurück und
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