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Der magische Pflug

Der magische Pflug

Titel: Der magische Pflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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sterben.
    Vigors Tod hat mein Leben gerettet, bevor ich geboren wurde, dachte Alvin. Er hat bis zum letzten Atemzug durchgehalten, damit ich noch als der siebente Sohn eines siebenten Sohnes das Licht der Welt erblicken konnte, damit alle meine vor mir geborenen Brüder noch am Leben blieben. Das war die gleiche Art von Opfermut und Tapferkeit und Stärke, wie sie Measure bewiesen hatte, der keinen einzigen Roten getötet hatte, und der beinahe gestorben war, als er versuchte, das Massaker vom Tippy-Canoe zu verhindern; der denselben Fluch auf sich genommen hatte, der auf seinem Vater und seinen Brüdern lastete: Blut an den Händen zu haben, wenn er es unterließ, irgendeinem Fremden die wahre Geschichte vom Tod all dieser unschuldigen Roten zu erzählen. Also kniete Alvin vor Vigors Grab, doch war es so, als würde er vor Measures Grabstätte knien, obwohl er doch wußte, daß Measure gar nicht tot war.
    Jedenfalls … nicht ganz tot. Aber wie der Rest der Einwohner von Vigor Church, würde auch Measure diesen Ort nie wieder verlassen. Er würde all seine Tage dort verbringen, wo er nicht allzu vielen Fremden begegnen und somit die Geschichte erzählen mußte, so daß er wenigstens hin und wieder für kurze Zeit das Gemetzel an jenem Tag im letzten Sommer vergessen konnte. Die ganze Familie blieb dort zusammen, alle Verwandten und alle anderen Menschen im Umland lebten dort ihre Tage zu Ende – bis jene, auf denen der Fluch lastete, gestorben waren. Sie teilten die gemeinsame Schande und die gemeinsame Einsamkeit, als wäre jeder mit jedem verwandt.
    Nur für mich gilt das nicht, dachte Alvin. Ich habe keinen Fluch auf mich genommen. Ich habe sie alle zurückgelassen.
    Wie er so da kniete, fühlte Alvin sich wie eine Waise. Irgendwie war er das ja auch. Man hatte ihn hierher in die Lehre geschickt, und er wußte, daß seine Verwandten ihn niemals besuchen würden, was immer er tun, was immer er erschaffen mochte. Gewiß, er konnte von Zeit zu Zeit in seine trübe, traurige Heimatstadt zurückkehren, doch sie glich viel eher einem Friedhof als dieser grasbewachsene, lebendige Ort hier. Denn obwohl hier Tote ruhten, herrschten in der nahegelegenen Stadt doch Hoffnung und Leben, blickten die Leute in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit.
    Alvin mußte auch in die Zukunft schauen. Er mußte seinen Weg finden, der ihn zu dem Ziel führte, das zu erreichen er geboren worden war. Du bist für mich gestorben, Vigor, mein Bruder, dem ich nie begegnet bin. Ich habe nur noch nicht herausbekommen, weshalb es so wichtig war, daß ich am Leben bleiben sollte. Wenn ich das erst einmal weiß, hoffe ich, daß ich dir Grund gebe, stolz auf mich zu sein. Ich hoffe, daß du dann denkst: Alvin war es wert, daß ich für ihn mein Leben ließ.
    Als seine Gedanken schließlich zur Ruhe kamen, als sein Herz sich aufgefüllt und wieder geleert hatte, tat Alvin etwas, womit er nie gerechnet hätte: Er schaute in den Boden hinein.
    Nicht, daß er grub. Natürlich nicht. Alvins Gabe erlaubte es ihm, das Reich unter der Erdoberfläche zu erspüren, ohne seine Augen zu benutzen, so, wie er in Stein hineinschauen konnte. Zwar mochte dies für einige Leute eine Art Grabschändung sein, daß Alvin auf den Leichnam seines Bruders blickte, doch für Alvin war es die einzige Möglichkeit, den Menschen zu sehen, der für ihn gestorben war.
    Also schloß er die Augen und spähte in den Boden hinein und fand die Knochen im verfaulten Holzsarg. Vigor war ein großer, starker Junge gewesen, genauso groß, wie er auch hatte sein müssen, um einen Baumstamm in der Strömung eines Flusses beiseite zu schieben. Doch seine Seele war nicht mehr da. Und obwohl Alvin damit gerechnet hatte, war er doch enttäuscht.
    Sein verborgener Blick schweifte zu den kleinen Körpern hinüber, zu Staub zerfallen, und dann zu dem knorrigen alten Leichnam von Altpapi, wer immer das gewesen sein mochte. Er war vor knapp einem Jahr beerdigt worden.
    Aber dieser andere Körper! Dieses namenlose Grab! Eine Frau lag darin, und sie war höchstens einen Tag tot. Es war noch alles Fleisch an ihr.
    Er stieß einen Ruf des Erstaunens aus und auch der Trauer, als ihm der nächste Gedanke in den Sinn kam. Konnte es sein, daß das Fackelmädchen hier beerdigt lag? Ihre Mutter hatte gesagt, daß sie davongelaufen sei, und wenn junge Mädchen davonliefen, war es keineswegs ungewöhnlich, daß sie dabei umkamen. Warum trauerte die Mutter denn sonst so? Die Tochter des Gasthofwirts, ohne

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