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Der magische Pflug

Der magische Pflug

Titel: Der magische Pflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Grabstein beerdigt – ach, das kündete von schrecklichen Dingen. War sie vielleicht davongelaufen und hatte so schlimme Schande auf sich geladen, daß nicht einmal ihre eigenen Eltern ihr Grab kennzeichnen mochten? Warum sonst lag sie hier ohne Grabstein?
    »Was ist los mit dir, Junge?«
    Alvin stand auf, drehte sich um, sah dem Mann ins Gesicht. Ein stämmiger Bursche, aber von durchaus gutmütigem Äußeren. Doch im Augenblick war sein Gesichtsausdruck unruhig.
    »Was tust du hier auf diesem Friedhof, Junge?«
    »Sir«, erwiderte Alvin, »mein Bruder liegt hier begraben.«
    Der Mann dachte einen Augenblick nach; dann entspannte sich seine Miene. »Du gehörst also zu dieser Familie. Aber ich kann mich erinnern, daß alle ihre Jungen damals so alt waren wie du heute …«
    »Ich bin der, der in jener Nacht hier geboren wurde.«
    Als der Mann das hörte, breitete er einfach nur die Arme aus und drückte Alvin an sich. »Alvin haben sie dich genannt, nicht wahr?« sagte er. »Genau wie deinen Vater. Wir haben ihn hier Alvin Bridger genannt; er ist so etwas wie eine Legende geworden. Laß dich anschauen, ich will sehen, was aus dir geworden ist. Der siebente Sohn eines siebenten Sohnes, nach Hause gekommen, um seinen Geburtsort und das Grab seines Bruders zu sehen! Natürlich wirst du in meinem Gasthof wohnen. Ich bin Horace Guester, wie du dir sicher schon denken kannst. Es freut mich, dich wiederzusehen, aber bist du nicht ein bißchen groß für … wieviel? Zehn, elf Jahre?«
    »Fast zwölf. Ja, die Leute sagen, daß ich groß für mein Alter bin.«
    »Ich hoffe, daß du stolz auf den Grabstein bist, den wir für deinen Bruder angefertigt haben. Er wurde hier sehr bewundert, auch wenn wir ihm erst im Tode begegneten, und nicht im Leben.«
    »Das Grab gefällt mir«, erwiderte Alvin. »Es ist ein schöner Stein.« Und dann stellte er, weil er nicht an sich halten konnte, auch wenn es nicht besonders klug war, jene Frage, die ihm am heißesten auf den Nägeln brannte: »Aber ich frage mich, Sir, warum hier gestern ein Mädchen begraben wurde, das keinen Grabstein mit seinem Namen darauf hat.«
    Horace Guester wurde aschfahl im Gesicht. »Natürlich, du kannst das ja sehen«, flüsterte er. »Rutengänger oder so was. Siebenter Sohn. Gott steh uns allen bei.«
    »Hat sie etwas Schändliches getan, Sir, daß sie keinen Grabstein bekam?« fragte Alvin.
    »Nichts Schändliches«, erwiderte Horace. »Gott sei mein Zeuge, daß dieses Mädchen ein rechtschaffenes Leben geführt hat und einen tugendhaften Tod gestorben ist. Ihr Grab bleibt unbenannt, damit dieses Haus auch noch anderen wie ihr Unterschlupf bieten kann. Aber, Junge, sag mir, daß du nie jemandem erzählen wirst, was du hier unter der Erde entdeckt hast. Damit würdest du Dutzenden und Hunderten verlorener Seelen auf dem Weg aus der Sklaverei in die Freiheit Schmerzen zufügen. Kannst du mir das glauben? Kannst du mir vertrauen und in diesem Punkt mein Freund werden? Das wäre mir doch zuviel Qual, meine Tochter zu verlieren und dieses Geheimnis enthüllt zu sehen, und das alles an ein und demselben Tag. Da ich das Geheimnis nicht vor dir verbergen kann, mußt du es für mich bewahren, Alvin, Junge. Sag, daß du es tun wirst.«
    »Wenn es ein ehrbares Geheimnis ist, werde ich es auch wahren, Sir«, antwortete Alvin, »aber welches ehrbare Geheimnis bringt einen Mann dazu, seine eigene Tochter ohne Grabstein zu beerdigen?«
    Horaces Augen weiteten sich, dann lachte er laut los. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, schlug er Alvin auf die Schulter. »Das ist nicht meine Tochter da unten, Junge. Wie kommst du nur darauf? Das ist ein schwarzes Mädchen, eine entflohene Sklavin, die letzte Nacht auf ihrem Weg nach Norden gestorben ist.«
    Nun merkte Alvin zum ersten Mal, daß der Leichnam ohnehin viel zu klein für eine Sechzehnjährige war. Er war so groß wie der eines Kindes. »Das Baby in Eurer Küche, ist das ihr Bruder?«
    »Ihr Sohn«, erwiderte Horace.
    »Aber sie ist so klein«, warf Alvin ein.
    »Das hat ihren weißen Besitzer nicht daran gehindert, sie zu schwängern, Junge. Ich weiß zwar nicht, wie du zur Sklaverei stehst oder ob du dir jemals darüber Gedanken gemacht hast, aber ich bitte dich, jetzt einmal etwas nachzudenken. Denk daran, daß die Sklaverei es einem weißen Mann erlaubt, einem Mädchen die Unschuld zu rauben und weiterhin Sonntags in die Kirche zu gehen, während sie vor Schande jammern und dieses Bastardkind austragen

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