Der magische Pflug
Tochter stand da und schaute in die Ferne und sah, daß dein großer Bruder noch am Leben war, als du gerade aus dem Schoß kamst …«
»Eure Tochter«, sagte Alvin und vergaß sich soweit, daß er sie mitten im Satz unterbrach, »ist eine Fackel.«
Die Frau wurde kalt wie Eis. »War», sagte sie. »Sie hat diese Gabe nicht mehr.«
Doch Alvin bemerkte kaum, wie sehr sich die Dame plötzlich verändert hatte. »Meint Ihr, daß sie diese Fähigkeit verloren hat? Aber ich habe noch nie davon gehört, daß ein Mensch seine Gabe verlieren kann. Bitte, wenn sie hier ist, würde ich gern mit ihr sprechen.«
»Sie ist nicht mehr hier«, erwiderte die Dame. Endlich begriff Alvin, daß sie nicht gern darüber reden wollte. »In Hatrack River gibt es keine Fackel mehr. Nun werden die Babys geboren, ohne daß jemand sie berührt, um festzustellen, wie sie im Mutterleib liegen. Das ist alles. Ich werde kein Wort mehr über ein Mädchen verlieren, das davonläuft, einfach davonläuft …«
Irgend etwas wie Wehmut lag nun in der Stimme der Dame, und sie kehrte ihm den Rücken zu.
»Ich muß meinen Brotteig fertigmachen«, sagte sie über die Schulter. »Der Friedhof ist dort oben auf dem Hügel.« Dann drehte sie sich wieder zu ihm um, und es war kaum eine Spur von Zorn oder der Wehmut oder dem zu bemerken, was sie Sekunden zuvor empfunden haben mochte. »Wenn mein Horace hier wäre, würde ich dir von ihm den Weg zeigen lassen, aber du findest es sowieso, denn es führt eine Art Weg hinauf. Es ist nur ein Familienfriedhof mit einem kleinen Zaun.« Nun milderte sich ihr strenges Gehabe. »Wenn du dort oben fertig bist, dann komm wieder. Dann gebe ich dir etwas Besseres, als Reste zu essen.« Sie eilte in die Küche zurück. Alvin folgte ihr.
Am Küchentisch stand eine Wiege, in der ein Säugling schlief, obwohl er ein wenig zappelte. Irgend etwas an dem Baby war seltsam, aber Alvin konnte es nicht sofort ausmachen.
»Danke für Eure Freundlichkeit, Ma'am, aber ich möchte keine Almosen. Ich werde für alles, was ich esse, mit meiner Hände Arbeit bezahlen.«
»Das ist wohl gesprochen, wie ein wackerer Mann. Dein Vater war genauso, und die Brücke, die er über den Hatrack gebaut hat, steht immer noch da, so fest wie eh und je. Aber jetzt geh erst einmal, schau dir den Friedhof an, danach kannst du ja wiederkommen.«
Sie beugte sich über die riesige Teigrolle auf dem Knettisch. Alvin hatte einen kurzen Augenblick den Eindruck, als würde sie weinen, und vielleicht sah er tatsächlich Tränen aus ihren Augen auf den Teig strömen, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls erkannte er, daß sie allein sein wollte.
Er musterte erneut das Baby und merkte, was daran anders war. »Das ist doch ein Mischlingsbaby, nicht wahr?« fragte er.
Sie hörte auf zu kneten, behielt die Hände aber bis zu den Gelenken im Teig. »Das ist ein Baby, und es ist mein Baby. Ich habe es adoptiert, und es ist meins. Und wenn du ihn noch mal einen Mischling nennst, dann knete ich dir das Gesicht durch wie Teig.«
»Tut mir leid, Ma'am, ich habe es nicht böse gemeint. Es ist … sein Gesicht ist so geschnitten, daß ich glaubte …«
»Na ja, er ist zur Hälfte ein Schwarzer, das stimmt, aber ich ziehe seine weiße Hälfte hier auf, als wäre er mein eigener Sohn. Wir haben ihn Arthur Stuart getauft.«
Den Witz verstand Alvin sofort. »Ah! Den König darf wohl kaum jemand einen Mischling nennen, nicht wahr?«
Sie lächelte. »Nein, wohl kaum. Nun geh aber, Junge. Du bist deinem verstorbenen Bruder noch etwas schuldig, und das solltest du am besten gleich erledigen.«
Der Friedhof war leicht zu finden, und Alvin war zufrieden, als er sah, daß sein Bruder Vigor einen Grabstein besaß und daß Vigors Grab so gut gepflegt war wie alle anderen. Es gab hier nur wenig Gräber. Zwei Steine mit demselben Namen – ›Baby Missy‹ – und Datumsangaben, die von Kindern kündeten, die jung gestorben waren. Auf einem anderen Stein stand ›Altpapi‹, und dann sein wirklicher Name und Geburts- und Sterbejahr, die von einem langen Leben kündeten. Und auf einem weiteren Stein stand ›Vigor‹.
Alvin kniete am Grab seines Bruders nieder und versuchte sich vorzustellen, wie er wohl gewesen sein mochte. Wie sein Bruder Measure? Alvins Lieblingsbruder, der mit ihm zusammen von den Roten gefangengenommen worden war? Ja, Vigor mußte wie Measure gewesen sein. Oder vielleicht war Measure wie Vigor gewesen. Beide bereit, notfalls für ihre Familie zu
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