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Der magische Reif

Der magische Reif

Titel: Der magische Reif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Prévost
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der Schränke, auch nicht von den Fresken an den Wänden, auf denen Städte- und Landkarten abgebildet waren. Der Kamin . . . Ja, das Geräusch kam vom Kamin her! Während er den Goldreif wieder und wieder auflegte, starrte Samuel wie gebannt auf den Kamin. Jedes Mal, wenn das klickende Geräusch ertönte, hatte er das Gefühl, dass einer der Löwenköpfe sich bewegte. So kurz und blitzschnell, dass man es kaum wahrnahm, wie ein kleiner unscharfer Punkt auf einem sonst gestochen scharfen Foto. Mehrere Male stürzte Sam auf den Kamin los, doch immer wenn er ankam, war die Löwenskulptur bereits wieder erstarrt. Immerhin stellte er bei seinen zahlreichen Anläufen fest, dass sich das Löwenmaul in atemberaubender Geschwindigkeit öffnete und wieder schloss und dass darin etwas kurz aufblitzte. Der Schlüssel zum Geheimfach?
    Er untersuchte den Kamin etwas genauer: Der Löwe hatte eine prächtige steinerne Mähne, schmale Augen und ein Maul mit furchterregenden Fangzähnen. Ein winziger Spalt zwischen den Lefzen bestätigte die Vermutung, dass das Maul sich öffnen konnte. Doch von dem Moment an, wo der Mechanismus ausgelöst wurde, blieb das Maul nur so kurze Zeit offen, dass man unmöglich hineingreifen konnte, um, was immer sich dann verbarg, herauszuholen. Sam versuchte, das Gebiss mit bloßen Händen auseinanderzudrücken, doch ohne Erfolg. Vielleicht, wenn er ein Werkzeug hätte? Eins dieser spitzen mathematischen Instrumente oder...
    Da erblickte er die dreieckige Sanduhr auf dem schwarzen Tisch und ihm kam eine Erleuchtung: natürlich, der Fluss der Zeit! Meine Güte, warum war ihm das nicht schon eher eingefallen! Aus welchem Grund hatte der Tätowierte sich die Abhandlung nicht selbst geholt, obwohl er doch selbst in der richtigen Epoche gewesen war? Es war so offensichtlich! Einfach weil er nicht dazu in der Lage war . . . Aufgrund des Löwen, der den Schatz bewachte und den Zugang zum Geheimfach unmöglich machte! Und welchen Grund hatte er gehabt, Sam trotz all der Gefahren zu Qins Mausoleum zu schicken? Damit Sam von dort die notwendigen Fähigkeiten mitbrachte. Rudolf musste gewusst haben, dass der Aufenthalt in Qins Grabhügel dem jungen Mann ein Mittel geben würde, dieses Hindernis zu überwinden. Was war das beste Mittel, dem Löwen zuvorzukommen und ihm seine Beute zu entreißen? Die Zeit anzuhalten ... Und was hatte Sam bei seinem Zusammentreffen mit Qin Shihuangdi gelernt? Sich selbst zu kontrollieren, um diese Verlangsamung zu steuern . . .
    Samuel ging zurück zu dem Geheimfach und zwang sich zu äußerster Konzentration. Er musste wieder diesen Trancezustand erreichen, der es ihm ermöglicht hatte, den Sonnenstein zu behauen und dem Grab zu entkommen. Er schloss die Augen und tauchte tief in sich hinein, dabei zwang er sein Herz, langsamer zu schlagen. Wieder hatte er dieses eigenartige Gefühl, in seiner eigenen Brust zu zerschmelzen und der Bewegung des Lebens im Inneren seines Körpers zuzusehen. Mühelos begann sich sein Herzschlag zu verlangsamen, bis er sich dem erhabenen Rhythmus der Zeit angepasst hatte und aus beiden ein einstimmiger Rhythmus geworden war . . .
    Sam öffnete ein wenig die Augen und stellte fest, dass er, wie schon beim ersten Mal, die Welt durch eine Art grünen Filter wahrnahm. Er drückte Merwosers Armreif auf die eingravierte Sonne und schnellte, als das klickende Geräusch ertönte – es klang unglaublich lange und höhlenartig -, hinüber zum Kamin. Es fühlte sich an, als würde er schweben, seine Arme und Beine lösten um ihn herum eine Reihe von Schwingungen aus, die sich in großen konzentrischen Kreisen ausbreiteten. Als würde er sich durch ein flüssiges Medium bewegen . . . Auch die Laute hörten sich irgendwie verstärkt und verzerrt an. Ein bisschen erinnerte es Sam an seine Kindheit, wenn er in der Badewanne so lange wie möglich den Kopf unter Wasser gehalten hatte und die Geräusche aus dem Haus ungewohnt klar und laut in seinen Ohren dröhnten. Hier, in den geräuschgedämpften Räumen der Bibliothek, klangen seine Schritte in den von Mamina geliehenen Sandalen wie das Trampeln einer Büffelherde. Die Kampfgeräusche von draußen dröhnten wie ein ganzes Paukenorchester. Die durch die Fensterscheiben hereindringenden Stimmen klangen unnatürlich tief, wie bei einer zu langsam abgespielten Schallplatte.
    Mit drei Sprüngen war Sam am Kamin, während der Löwe weit gähnend das Maul aufzureißen schien. Auf der steinernen Zunge glänzte ein goldener

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