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Der magische Reif

Der magische Reif

Titel: Der magische Reif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Prévost
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Löwen
     
    Samuel durchquerte im gestreckten Galopp den lateinischen und den griechischen Saal und schoss wie eine Rakete in die Große Bibliothek. Bis dahin hatte er nur ein paar flüchtige Blicke hineinwerfen können und die alles beherrschende Atmosphäre von Einkehr und Studium nahm ihn sofort gefangen: das warme Licht der farbigen Fenster, der Geruch nach alten Büchern und Wachs, der große schwarze Tisch, auf dem die Manuskripte mit Silberketten befestigt waren; die ausladenden samtbezogenen Sessel und all diese für einen solchen Ort typischen Gegenstände, die der Forschung dienten: eine seltsame Weltkarte aus Metall zum Beispiel, die aus verschiedenen, sich überschneidenden, beweglichen Ringen bestand; eine dreieckige, fünfzig Zentimeter hohe Sanduhr, diverse kompassähnliche Recheninstrumente, eine große Uhr ohne Zeiger mit unverständlichen Teilstrichen . . .
    Dazu gab es, außer einem schönen, mit Löwenköpfen geschmückten Kamin, fünf Eisenschränke, von denen vier geöffnet waren. Samuel nahm sie umso fieberhafter in Augenschein, als er spürte, wie der Rhythmus der Zeit sich in ihm ausbreitete: Er musste seinem Ziel ganz nah sein . . . Zunächst durchsuchte er die zugänglichen Regale, ohne etwas zu finden, was an Kluggs Abhandlung erinnerte, dann begann er, sich für das verschlossene Möbelstück zu interessieren, dessen Klinke er mehrere Male erfolglos betätigte. Er beließ es dabei, denn er war plötzlich überzeugt, dass er an einer anderen Stelle suchen musste. Er hatte nämlich bemerkt, dass die Intensität des Pulsschlages in seinem Körper von einem Ende des Raumes zum anderen variierte. Nach rechts – dort wo sich der verschlossene Schrank befand – wurde er schwächer, nach links dagegen wurde er stärker.
    Sam suchte die Stelle, wo der Pulsschlag der Zeit am stärksten zu spüren war: direkt vor einem ovalen Spiegel, dessen auffälliger Rahmen aus einer Vielzahl vergoldeter Stäbe von unterschiedlicher Länge bestand, die ihn kranzförmig umstrahlten. Wie eine Sonne . . . Samuel erkannte im Vorbeigehen sein Spiegelbild: ein etwa vierzehn- bis fünfzehnjähriger Jugendlicher in einem abgetragenen Hemd, mit zerzaustem Haar – der Helm hatte deutliche Spuren hinterlassen -, mit angespannten Zügen und einem fiebrigen Glänzen in den Augen, das auf wilde Entschlossenheit hinwies. Ein Straßenjunge gewissermaßen, wahrscheinlich auf der Suche nach Geld oder etwas zu essen . . . Auf jeden Fall jemand, der nicht viel zu verlieren hatte.
    Samuel riss sich zusammen: Das war jetzt nicht der Moment, über seinen Seelenzustand nachzudenken. Seinen Auftrag ausführen. Punkt. Aus. Der Tätowierte hatte einen Schrank mit einer Sonne darauf erwähnt, in dem die Abhandlung verschlossen sein sollte. Sam sah vor sich zwar einen Spiegel, der als Sonne gelten konnte, aber den dazugehörigen Schrank konnte er nicht erkennen. Dennoch pochte genau an dieser Stelle der Rhythmus der Zeit
    am stärksten, als wäre ein Sonnenstein in greifbarer Nähe .. . Er packte den Spiegel und hob ihn von der Wand. Dahinter versteckte sich eine Art in die Wand eingebauter Tresor: ungefähr sechzig mal sechzig Zentimeter und genau darüber ein Kreis mit sechs Strahlen. Eine weitere Sonne! Das erklärte auch das starke Pulsieren! Ihr Durchmesser passte genau zu Merwosers Armreif, aber die Strahlen stimmten nicht, sie waren kaum angezeichnet. Unmöglich, eine Münze hineinzuschieben. Diese Sonne hier diente nicht dem Zeitreisen, sie musste einen anderen Nutzen haben . . .
    »Okay«, flüsterte Sam. »Ich denke, ich habe, was du brauchst.«
    Er nahm den Goldreif aus seiner Tasche, öffnete den kleinen Verschluss und zog die sechs Münzen ab. Sollte Kluggs Abhandlung tatsächlich hier versteckt sein, dürfte es nicht schwierig sein, an sie heranzukommen. Er drückte das Schmuckstück auf die Sonne: Merwosers Armreif leuchtete plötzlich grell auf, von irgendwoher ertönte ein klickendes Geräusch. Zu gern hätte er gesehen, wie sich das Geheimfach von selbst öffnete, doch nichts dergleichen geschah. Er schob seinen Zeigefinger in das Schlüsselloch und zog daran, allerdings auch ohne Erfolg. Die Sonne und der Armreif genügten nicht, er brauchte auch einen Schlüssel . . .
    Er wiederholte den Vorgang Schritt für Schritt. Sobald er Merwosers Armreif auf die Sonne legte, leuchtete dieser auf, ein kurzes Geräusch folgte und ... Er versuchte herauszufinden, woher dieses Klicken kam. Weder aus dem Geheimfach noch aus einem

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