Der magische Reif
befand. Die schwindelerregenden Gerüste sahen aus, als wollten sie den Himmel erstürmen. Gegenüber der Kirche lagen mehrere Gebäude, eines davon mit einem Giebel, an dem ein Buch mit zwei gekreuzten Schlüsseln auf dem geprägten Einband prangte. Allem Anschein nach also die päpstliche Bibliothek . . . Die Eingangstür stand offen und im Vorraum stieß er auf einen kleinen blonden Mann, der gerade dabei war, dicke Wälzer in eine Truhe mit beeindruckenden Eisenschlössern zu sortieren. Der kleine Mann richtete sich auf und musterte Sam in seinem ungewöhnlichen Aufzug erstaunt.
»Ich . . . ich habe um Verstärkung gebeten«, sagte er zögernd. »Aber eigentlich habe ich jemand anderen erwartet. Demnach ist kein Soldat oder eine Schweizergarde verfügbar?«
Samuel dachte angestrengt nach, um eine möglichst unverfängliche Antwort zu finden.
»Viele sind auf den Verteidigungsmauern«, erklärte er.
»Die Verteidigungsmauern, ja natürlich. Alle meine Assistenten sind sofort dorthin gestürzt. Was zählen schon Bücher in einem Krieg, nicht wahr? Ach, die Menschen zerstören nur allzu gern mit der einen Hand, was sie mit der anderen aufgebaut haben, das ist die Geschichte der Welt. Die Bücher hingegen . . . Wie dem auch sei«, fuhr er entschlossen fort. »Auch ich weiß mich zu wehren, auf meine Art . . . Schließlich steht nichts Geringeres als die Rettung unserer Kultur auf dem Spiel! Bist du bereit, für Bücher zu kämpfen, mein Junge?« Samuel nickte eifrig. Er war mit allem einverstanden, was ihn der Abhandlung Kluggs näherbringen würde.
»Also schön, dann komm mal mit.«
Er winkte Sam, ihm ins Innere der Bibliothek zu folgen. Sie kamen durch drei ineinander übergehende, herrlich geschmückte Räume, ausgestattet mit mächtigen Schränken, von denen mehrere weit geöffnet waren.
»Du hast noch nie einen Fuß hier hineingesetzt, nehme ich an?«
Samuel schüttelte den Kopf.
»Und was genau ist deine Aufgabe hier im Palast? Küchenhilfe? Pferdeknecht?«
»Krau. . . Kräuterhändler. Also eigentlich Gehilfe von Mamina, der Kräuterhändlerin von Heilig-Geist. Sie hat darauf bestanden, dass wir hier Zuflucht suchen aufgrund der Ereignisse. Ich habe die Gelegenheit genutzt, weil ich mir gern die Bibliothek ansehen wollte.«
Er musste die letzten Worte mit einer solchen Treuherzigkeit vorgebracht haben, dass er sein Gegenüber sofort für sich gewonnen hatte, denn er zwinkerte Sam verschmitzt zu.
»Du wolltest also tatsächlich die Bibliothek sehen? Welch lobenswerte Neugier! Ich wünschte, die anderen Bewohner dieses Palastes, darunter auch die Erlauchtesten, würden deine Begeisterung teilen! Mein Name ist Patrizio Bocceron«, stellte er sich mit einer Verbeugung vor. »Und wenn du dich für Bücher interessierst, kannst du hier nach Herzenslust schwelgen, denn hier findest du die schönste Sammlung von Handschriften und Druckwerken der Welt!«
Er breitete die Arme aus und wies auf den Raum, der sie umgab. »Der erste Saal, in dem wir uns befinden, gehört den lateinischen Autoren: Augustin, Tacitus, Seneca und viele andere . . . Der zweite ist den griechischen Schriften vorbehalten: Theater, Philosophie, Medizin, Astrologie ... ein Hort von teilweise über zweitausend Jahre altem Gedankengut! Im dritten Saal schließlich, den wir die Große Bibliothek nennen, lagern höchst empfindliche Werke oder solche, die unsere Kirche nicht in freiem Umlauf wissen möchte. Zu diesem darf ich dir verständlicherweise keinen Zutritt gewähren. In den beiden anderen Sälen jedoch«, fügte er lächelnd hinzu, »werde ich deine beiden Arme brauchen . . .«
Er ging bis zur Mitte des griechischen Saals zu einem der weit geöffneten Schränke, in dem Dutzende von Büchern mit kunstvoll verzierten Einbänden aufgereiht standen.
»Leider fehlt uns die Zeit, alle unsere fünftausend Bände in Sicherheit zu bringen. Ich muss also eine Auswahl treffen und entscheiden, welche der Nachwelt um keinen Preis verloren gehen dürfen. In gewisser Hinsicht also das Wesen des menschlichen Geistes definieren. Keine leichte Aufgabe! Sollte man also vor der Zerstörungswut unserer Feinde lieber diese seltene Ausgabe von Aristoteles' Physik oder dieses einzigartige Exemplar von Ptolemäus' Geografie in Sicherheit bringen? Eine schier unmögliche Entscheidung, als müsste man bestimmen, welches von den Kindern weiterleben und welches sterben soll! Aber auch eine unumgängliche Entscheidung, wenn wir erhalten wollen, was wir sind.
Weitere Kostenlose Bücher