Der magische Reiter reiter1
Spannung zwischen ihnen immer weiter aufgebaut. Vater schrie: Bedienstete sollte man weder sehen noch hören! Tja, und das war’s! Seitdem haben wir von keinem der Bediensteten mehr etwas gesehen noch gehört. Von keinem einzigen. Doch wir wissen, dass sie noch da sind.«
»Augenblick.« Karigan hob die Hand. »Euer Vater hat gesagt, dass man Bedienstete weder sehen noch hören sollte, und da verschwanden Letitia und die anderen einfach?«
»Aber nein, Kind. Du liebe Güte, ich erzähle Geschichten schon genauso wie Bay. Ich habe eine wichtige Sache ausgelassen. Die ›abscheuliche‹ Flüssigkeit, von der Letitia fürchtete, dass sie die Politur auf Vaters Tisch verderben könnte, war mit flüchtigen Bannsprüchen durchsetzt. Die Bannsprüche
reagierten augenblicklich auf seinen Befehl. Er konnte ihn nicht mehr rückgängig machen.«
Karigan war totenblass. »Und die Bediensteten blieben bei Euch, obwohl Euer Vater … sie unsichtbar gemacht hatte? Waren sie nicht wütend?«
»Natürlich waren sie außer sich, Kind. Und wie. Doch sie blieben, in der Hoffnung, dass Vater einen anderen Zauber fände, der den Fluch rückgängig machen würde. Er suchte bis zur völligen Erschöpfung, und er hörte nie auf zu suchen, bis er starb. Es tat ihm schrecklich leid, und ich glaube, das wussten die Bediensteten. Und ja, sie blieben bei uns. Wo hätten sie, unsichtbar, wie sie waren, auch sonst eine Anstellung finden können?«
»Und dabei bleibt es nun?«, sagte Karigan. »Letitia und die anderen werden bis zum Ende ihrer Tage unsichtbar sein?«
Miss Bunch nickte mit ernster Miene. »Wir versuchen sie so gut wie möglich zu behandeln und setzen Vaters Suche nach einem Heilmittel fort. Dabei haben wir schon das eine oder andere über Magie gelernt, doch bisher nichts, was den Bediensteten helfen könnte. Es wird wohl keine Lösung geben.«
Diesmal wusste Karigan keine Antwort, und Miss Bunch erhob sich ruckartig von dem Stuhl und klopfte ihr auf die Schulter. »Wie ich schon sagte, es ist eine schmerzliche Geschichte, eine, von der wir niemals frei sein werden. Inzwischen machen wir weiter wie gehabt … und«, fügte sie flüsternd hinzu, »wir achten darauf, was wir über andere sagen. Man kann nie wissen, wer zuhört!«
Miss Bunch begab sich zur Tür. »Wenn du etwas brauchst, rufe einfach. Ich schlafe weiter hinten im Gang. Bay bereitet es in letzter Zeit Mühe, die Treppe heraufzukommen, deshalb
hat sie ein Hinterzimmer im Erdgeschoss bezogen. Schlaf gut. Es gibt Frühstück, wenn du aufwachst.«
Karigan blieb allein in dem Zimmer zurück, das wie alle anderen im Haus bestens eingerichtet war. Auf einem Waschgestell standen ein Krug und eine Schüssel aus Keramik. Vor der schweren Kommode, in die verschlungene Kiefernzweige und Zapfen geschnitzt waren, hing ein handbestickter Leinenvorhang. Eine große Zederntruhe voll rauer Wolldecken stand am Fußende des Betts. Eine Flickendecke mit einem Motiv in Diamantform erstrahlte wie ein explodierender Stern. Zufrieden blickte sie auf ihre saubere Kleidung, die ordentlich zusammengelegt auf dem Bett lag. Sie nahm die Brosche mit dem geflügelten Pferd aus der Tasche ihrer Robe und steckte sie an den Aufschlag des nun fleckenlosen Mantels.
Sodann überprüfte sie, ob der Liebesbrief noch in der Manteltasche war, und fand ihn wohlbehalten und unversehrt vor. Wunderbarerweise — oder vielmehr dank peinlich genauer Fürsorge – hatte die umsichtige Letitia ihn für die Dauer des Reinigungsprozesses entfernt und anschließend wieder hineingetan.
Die Botentasche war ebenfalls aufs Bett gelegt worden. Sie hatte die Ledermappe bisher nicht geöffnet, und obwohl sie den Eindruck hatte, den Schwestern trauen zu können, holte sie das jetzt nach. Es befand sich ein Umschlag darin, der mit dem Wachsabdruck eines geflügelten Pferds versiegelt war. Alles war in bester Ordnung, und so konnte sie jetzt in Frieden einschlafen.
Doch dann erhaschte sie im Spiegel der Kommode einen Blick auf sich selbst. Sie wirkte wie ein vorbeiwehender Geist, ihr langes weißes Nachtgewand blähte sich hauchdünn und
durchscheinend hinter ihr. Sie trat einige Schritte vor, um in den Spiegel zu schauen. Sie fand, dass die Reise sie nicht sonderlich verändert hatte, nur im Gesicht war sie etwas schmaler geworden.
Unter dem linken Auge hatte sie ein Mal. Sie beugte sich zu dem Silberglas vor und betrachtete es eingehender. Es war eigentlich kein Mal, sondern eher ein rötlicher, halbmondförmiger
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