Der magische Reiter reiter1
Kratzer unmittelbar über dem Wangenknochen und dicht unter ihrem Auge.
Sie erinnerte sich an Immerez’ Anblick durch das Teleskop und an das Gefühl seines kalten Metallhakens an ihrer Wange. Mit zitternden Fingern berührte sie das Mal und wandte sich vom Spiegel ab. Es war Zufall, nicht mehr. Sie konnte sich den Kratzer auch geholt haben, als sie durchs Unterholz brach, oder von ihrem eigenen Fingernagel. Sie konnte ihn von überallher haben.
Die Erschöpfung führte bei ihr schon zu Hirngespinsten, und sie beschloss, so schnell wie möglich schlafen zu gehen. Das Bett war von der Art, wie ihre Großmutter eines besessen hatte. Es war so hoch, dass man einen Stuhl brauchte, um hineinzuklettern. Karigan ließ sich auf die Matratze sinken und zog die Decken über sich. Es war kaum zu glauben, dass sie erst einen Tag in der Gesellschaft der Schwestern verbracht hatte.
Am Nachmittag hatte sie noch auf einem Flecken Moos geschlafen, ohne recht zu wissen, wie sie dort hingekommen war. Heute Nacht lag sie in einem wahrhaft luxuriösen Bett zwischen rauen, kühlen Laken, die so frisch rochen, als wären sie gerade erst von der Wäscheleine genommen worden. Sie blies die Lampe auf dem Nachttisch aus und seufzte zufrieden. Es war ein seltsamer Tag gewesen, aber an diesem
Giebelzimmer und dem bequemen Daunenbett war nichts Ungewöhnliches.
Karigan kuschelte sich unter die Decken. Im Haus war es still, doch draußen zwitscherten Vögel ihre Frühlingslieder. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie in bleiernen Schlaf versank, war das Huuhhuuhuuuh einer Eule auf einem Baum dicht unter ihrem Fenster.
Am Morgen wartete draußen Pferd auf Karigan. Sie war im warmen Licht der aufgehenden Sonne aufgewacht, wie Miss Bunchberry ihr versprochen hatte, ohne jeden Zweifel, dass sie Stunden um Stunden geschlafen hatte. Und doch stand die Sonne noch tief, als sie schließlich aufstand. Selbst als sie eine Weile gebadet hatte und das Frühstück zu sich nahm, das ihr die gespenstische Letitia bereitet hatte, war der Morgen noch nicht weit fortgeschritten. Die Zeit schien in Siebenschlot … nun ja, langsam zu vergehen. Sie hatte lange geschlafen und sich in jeder Hinsicht Zeit gelassen, und doch war es noch früh und morgenhell.
Pferd war angepflockt, die Satteltaschen bis zum Bersten gefüllt. Sein braunes Fell leuchtete in der Sonne – jemand, wahrscheinlich der unsichtbare Rolph, hatte ihn gebadet und sorgfältig gestriegelt, und er sah trotz seiner sehnigen Gestalt gut aus. Karigan gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Hals.
»Bevor du uns verlässt, Kind«, sagte Miss Bayberry von der Verandatreppe aus, »haben wir noch einige Dinge für dich.«
Karigan warf einen Blick auf die überquellenden Satteltaschen und spürte bereits das zusätzliche Gewicht in ihrem Bündel.
»Ihr habt mir schon so viel gegeben – all das Essen und die Kleidung zum Wechseln … «
»Unsinn, Kind. Das sind bloß Vorräte. Du musst noch etwas wachsen, und Bunch und ich machen uns Sorgen über deine Ernährung. Wir möchten dir gern ein paar Geschenke machen. Ganz einfache Geschenke.« Sie hielt ihr einen kleinen Zweig mit dunkelgrünen Blättern hin. »Mein Namensvetter Lorbeer. Wenn du merkst, dass die Zuversicht dich verlässt, die Hoffnung erlischt oder du die starken Gerüche wilder Stätten vermisst, nimm ein Blatt und reibe es zwischen den Fingern. Der Geruch wird dich erfrischen, und vielleicht denkst du dann an mich. «
Karigan lächelte, als sie den Lorbeer entgegennahm. Der frisch geschnittene Zweig duftete stark.
Miss Bunchberry zeigte ein schüchternes Lächeln. Sie hielt eine Blüte mit vier weißen Blättern in der Hand. »Die Steinbeere ist mein Namensvetter. Es gibt einen kleinen Flecken in den Wäldern hinter dem Haus, wo sie im Frühling aus dem Boden tritt. Wenn du einen Freund brauchst, zupf ein Blatt von der Blüte und lass es mit dem Wind davontreiben. Vielleicht wirst du dann auch an mich denken. Sie verwelkt nicht so schnell, mein Kind, genau wie eine gute Freundschaft.«
»Noch etwas, meine Liebe«, sagte Miss Bayberry. Sie drückte Karigan etwas Kühles und Glattes in die Hand. Dünne Lichtstrahlen leuchteten durch ihre Finger, die man selbst im hellen Sonnenschein sah.
»Der Mondstein!«, rief Karigan ehrfürchtig aus. »Das kann ich nicht annehmen. Er hat Eurem Vater gehört.«
»Sei nicht albern«, sagte Miss Bayberry. »Er hat dich auserkoren. Ich muss zugeben, dass er für Bunch oder mich nie
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