Der magische Reiter reiter1
Mauls. Karigan folgte seinem Blick und beschattete die Augen gegen die Sonne. Hoch oben kreiste ein riesiger Adler. Seine Größe und die matte Färbung deuteten darauf hin, dass es sich um einen der seltenen Grauadler handelte, die in den Windgesang-Bergen lebten. Man sah sie nicht oft so weit vom Gebirge entfernt und niemals aus der Nähe. Ihr Naturkundelehrer, Herr Ione, hätte seinen Meisterknoten dafür gegeben, das sehen zu dürfen, was sie gerade beobachtete.
Der Adler trieb auf den Luftströmungen, stieg höher und schien zu schweben, dann ließ er sich tiefer fallen, als hätte er etwas entdeckt. Karigan konnte sich vorstellen, wie die Federn an seinen Schwingen sich kräuselten und der Wind in seinen Ohren toste. Was für atemberaubende Anblicke ihm von so weit oben zuteilwerden mussten! Konnte er über den Rand des Grünen Mantels hinaus bis zum Meer blicken? Konnte er die Windungen des Berggipfels sehen, auf dem er zu Hause war?
Der Adler beschrieb immer größere Kreise; er war eindeutig auf der Suche nach etwas – höchstwahrscheinlich nach Beute. Einen Moment schwebte er noch, wie in der Zeit erstarrt, bevor er nach Süden abdrehte und außer Sicht geriet. Pferd schnaubte und begann wieder zu grasen.
Bei Einbruch der Dämmerung folgten sie einem Wildpfad, um ein Lager für die Nacht zu finden. Karigan zuckte bei dem Gedanken zusammen, wieder auf dem Boden schlafen zu müssen. Sie war sich sicher, dass ihr Rücken nach so vielen Nächten auf Felsen und Wurzeln nie wieder der alte sein würde. Ihre kostbare, wenn auch durchnässte Decke aus Selium war zwar hilfreich, doch ein Federbett war sie nicht.
Das Sirren der Mücken klang ihr in den Ohren. Es war Fütterungszeit, und sie bissen in jedes Stück Fleisch, das nicht durch Kleidung geschützt war. Pferd schüttelte sich, um sich Linderung zu verschaffen, und fast hätte er dabei Karigan aus dem Sattel geworfen.
Sie kratzte sich an einer Anzahl neuer Schwellungen im Nacken und wünschte, sie hätte ein Fläschchen Priddelcreme dabei, die aus der schaurig riechenden Priddelpflanze gewonnen wurde, eher unter dem Namen Stinkkraut bekannt. Trotz ihres üblen Geruchs, oder gerade deswegen, war sie das beste Abwehrmittel gegen Mücken. Doch von Wünschen war noch niemand reich geworden, und es war ebenso unwahrscheinlich, hier auf einen Topf Creme zu stoßen, wie dass es ihr heute vergönnt wäre, in einem Federbett zu schlafen.
Ohne jede Vorwarnung blieb Pferd auf einmal stehen und legte die Ohren an. Karigan hörte auf, sich zu kratzen.
»Stimmt etwas nicht?«, wisperte sie. »Ich sehe nichts.«
Im dunkler werdenden Schatten des Waldes gab es alles Mögliche, was ein Pferd erschrecken konnte, doch dieses Pferd ließ sich nicht so leicht erschrecken. Karigan wartete einen Moment lang, und als sie nichts hörte und nichts sah, drängte sie das Tier weiter. Es weigerte sich und wich statt dessen einen Schritt zurück.
»Ich sehe noch immer …« Rechts von ihr raschelte es im
Dickicht. » … nichts.« Das letzte Wort brachte sie nur noch als Hauch über die Lippen.
Karigans Blicke schossen von einem Schatten zum nächsten, suchten nach der Geräuschquelle, doch die Stille hing schwer in den Wäldern, als warteten alle Geschöpfe mit angehaltenem Atem darauf, dass etwas geschah. Die Zügel fühlten sich in ihren verschwitzten Händen glitschig an. Pferd trat unbehaglich auf der Stelle.
Sie war gerade zu dem Entschluss gekommen, dass sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte, als ein Wesen, größer als Pferd, aus dem Dickicht hervorbrach, Blätter und Äste hoch in die Luft wirbelte und sich in einem silbernen Flirren auf sie stürzte.
Pferd bäumte sich auf und warf Karigan aus dem Sattel.
Karigan stöhnte. Die ganze Welt wogte und holperte in ihrem Kopf … ihrem armen, schmerzenden Kopf. Mantel und Hemd breiteten sich hinter ihren Schultern aus, und der Erdboden kratzte an ihrem bloßen Rücken. Ihr Fußknöchel war ein einziger Klumpen aus Schmerz. Ihre Arme schleiften der Länge nach in der Waldstreu hinterdrein. Schleifen, Wogen, Holpern. Nein, das Holpern war überhaupt nicht in ihrem Kopf. Ihr Fuß musste sich in einem Steigbügel verfangen haben, und jetzt zerrte Pferd sie hinter sich her.
Flatternd öffnete sie die Lider und reckte den Hals, um nach vorn zu schauen. Eine große, zangenartige Klaue, kein Steigbügel, hielt ihren Knöchel fest umklammert. Die Klaue saß an einem untertassenförmigen Körper, der mit einem
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