Der magische Wald
wurden vom Fluß umspült; Wasser floß aus seiner Kleidung und bildete eine Lache. Tränen brannten immer noch in seinen Augen. Sie war nicht mit ihm gekommen. Er hatte sie verloren. Die Dämmerung kam. In der Flußsenke rauschte laut das Wasser, doch der Himmel über den Bäumen war weit und leer, und im Osten glühte Licht am Horizont, das rasch heller wurde. Er versuchte sich zu konzentrieren, sich daran zu erinnern, wie alles gewesen war, als er damals aufgebrochen war, aber sein Verstand war genauso schwerfällig wie sein nasser Körper. Er streifte die stinkenden Pelze ab — die ihm jetzt viel zu groß waren — und stellte fest, daß die Schwertscheide leer war. Er hatte das Ulfberht irgendwo im Fluß verloren. Er dachte an seine Familiengeschichte, und wußte, daß es nicht lange verloren bleiben würde. Sein Zittern vor Kälte und sein ersticktes Schluchzen verschmolzen ineinander, und für einen Augenblick kniete er an dem feuchten Ufer und schlug die Hände vor das Gesicht. Er spürte die jugendliche Geschmeidigkeit seines Körpers, merkte wie seine Muskelstränge dünner geworden waren. Er war wieder ein
Hänfling, ein Dreizehnjähriger mit den Augen eines Erwachsenen. Sein Kinn fühlte sich merkwürdig glatt an, als er mit den Handflächen darüber strich — so glatt wie Cats gewesen war. Auch seine Narben waren verschwunden. »Ich bin ein unbeschriebenes Blatt«, dachte er. Nein, nicht ganz. Er hatte Erinnerungen. Er wußte, daß er sie nie verlieren würde, selbst wenn er es wollte. Die erstenTage indem AnderenOrt, der Ritt durch die unendlich weite Landschaft, die kristallklare Luft. Feuerschein in dem flüsternden Wald, Cats Gesicht ein paar Zentimeter vor seinem, der Druck ihres Körpers gegen seinen. Jagen im Wildwald mit Ringbone, Nebel, der zwischen den Bäumen aufstieg, und davor das Geweih eines ruhig äsenden Hirsches wie schwarze Äste.
Und die andere Seite, die finstere Seite. Die grausamen Augen des Werwolfs, die wie Kohlen vor ihm glühten. Der Schwarze Reiter wartend zwischen den Bäumen, umschwirrt von Aaskrähen. Bruder Nennians Gesicht, bevor er starb. Traum oder Alptraum, er würde es nie vergessen. Es war in sein Gehirn gebrannt. »Cat«, flüsterte er. Und wieder durchlief ihn ein Frösteln. Fancy schnupperte an ihm, und er stand auf. Er mußte sich beeilen. Er führte sie aus der Flußsenke, und das Rauschen des Flusses wurde leiser. Er spürte taunasses Gras unter seinen nackten Zehen, blieb stehen und blickte auf die ruhigen Wiesen und den dunklen Wald. Vieh bewegte sich auf den Weiden und glotzte ihn wiederkäuend an. Die Vögel waren mitten in ihrem Morgenkonzert. Ein leichter Geruch lag in der Luft, nach Rauch und Metall. Er hatte vergessen, wie anders es hier war. Er öffnete das Gatter, führte die brave Stute auf den Hof und sattelte sie ab, als er den Stall erreicht hatte. Sie schien sich kein bißchen verändert zu haben, war genauso wohlgenährt und glatt gestriegelt wie an dem Morgen, als er hier losgaloppiert war, hinter Cat her. Aber der Sattel war zerkratzt und verschrammt, und an ihm hingen Wildlederbeutel, die einen feuchten, säuerlichen Geruch ausströmten. Das Gewehr war auch noch da; der Lauf war verrostet. Er reinigte alles, so gut es ging, versteckte die Satteltaschen im Geräteraum hinter ein paar Getreidesäcken und tätschelte Felix mächtige Flanke, als dieser ihn beschnupperte. Dann ging er hinaus auf den Hof, wo ihm kalter Wind ins Gesicht fuhr. Aber der Sturm ließ nach. Es würde ein schöner Tag werden, wenn die Sonne erst einmal am Himmel stand.
Er schlich sich ins Haus und schob den Riegel der Hintertür vor. In der Küche war es still, im Herd glühte es rötlich, und eine Uhr tickte gleichmäßig vor sich hin. Das Haus wirkte winzig und beengend auf ihn, und für einen Moment stieg Klaustrophobie in Michael hoch. Oben hörte er Geräusche. Seine Familie wachte auf. Geräuschlos stieg er die Treppe hoch, wachsam wie ein Tier. Als er die Tür seines Zimmers hinter sich geschlossen hatte, hörte er Schritte auf dem Treppenabsatz. Seine Großeltern, sein Onkel Sean, seine Tante Rachel. Alle waren da. Wie lange war er fort gewesen? Ein, zwei Jahre? Oder nur einen winzigen Bruchteil dieses Morgens? Er kroch in sein Bett, in dem es noch nach Cat roch. Er grub sein Gesicht in das Kissen und weinte bittere Tränen.
»Michael, Michael, es ist Zeit aufzustehen! Du kommstzuspätzur Schule.« Undleise, unten aus der Küche: »Wo sind meine Kleider?
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