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Der magische Wald

Titel: Der magische Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Kaerney
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zitterte ein wenig.

    Mullan blickte schnell zur Seite. »Etwas stimmt an dieser Sache nicht ... Du warst nicht draußen heute nacht, oder? Hast du etwas gesehen?« Jetzt sah er Michael mit seinen alten Augen aufmerksam an, obwohl der Augenkontakt ihm unangenehm zu sein schien. »Bist du sicher, daß alles mit dir in Ordnung ist?« Da war die Einladung, alles zu erzählen, und für einen Moment lag es Michael auf der Zunge — die Schrecken und Wunder, die er erlebt hatte. Aber wenn er darüber sprach, hatte er seine Chance auf eine Rückkehr zu seinem normalen Leben in dieser Welt vertan. Nichts war mit ihm passiert. Er hatte nichts gesehen. Er war nur ein kleiner Junge. »Ich muß zur Schule.« Er drehte sich um und ging auf die Straße zu, machte sich auf seinen morgendlichen Weg. Bald würde er in einem muffigen Klassenzimmer sitzen, in Bücher starren, dem Gekicher der anderen Kinder lauschen und den Blick der Lehrerin auf sich spüren. So wie er jetzt Mullans Blick in seinem Rücken spürte, als er über den Hof zur Straße ging. Ein vorbeifahrendes Auto ließ ihn heftig zusammenzucken, und seine Hand fuhr zu einem Schwertgriff, der nicht mehr da war. Trautes Heim, sagte er sich, und verspürte dabei einen tiefen Schmerz. Er versuchte seine Gedanken abzuschalten, nicht an die unendlichen Tage hier an diesem Ort zu denken, an dieses Leben, das vor ihm lag. Und er ging zur Schule wie ein Mann, der ein Schafott besteigt. Er verbrachte die vorbeieilenden Tage wie ein Schlafwandler. Aber er vermißte Cat. Er vermißte ihr Gesicht, ihr lebhaftes Grinsen, ihre bissigen Kommentare. Er vermißte ihren Körper nachts neben sich, den Genuß, sie zu lieben. Nachts lag er viel wach, unfähig, in dem zu weichen, zu warmen Bett zu schlafen. Er wartete darauf, daß sie wieder an sein Fenster klopfte, und ging wenigstens einmal täglich hinunter zur Flußsenke, in der Hoffnung, ihre geschmeidige Gestalt zu sehen oder sie im Wald singen zu hören. Aber die Gegend war tot und leer. All das war vorbei. Es gab nur noch die gegenwärtige Wirklichkeit, die Welt, in die er hineingeboren worden war, mit ihren schwachsinnigen Ritualen. Die Schule war eine langweilige Pflicht, die man über sich ergehen lassen mußte. Seine Lehrerin, Miß Glover, ermahnte ihn, wenn er träumte, aber wenn er sie ansah, verstummte sie. Sie ließ ihn in Ruhe, und die anderen Kinder mieden ihn mit dem sechsten Sinn der Jugend, der ihnen sagte, daß er weniger denn je einer von ihnen war. Er wuchs zu einem schweigsamen, eigenbrötlerischen jungen Mann heran, der sich nur entspannen konnte, wenn er unter freiem Himmel und allein war. Als er vierzehn Jahre alt wurde, begann er die Schule zu schwänzen, um auf einer der umliegenden Farmen zu arbeiten. Seine erstaunlichen Kräfte und sein mürrisches Wesen halfen ihm dabei. Er wirkte älter als er war, und seine Augen waren die eines erbarmungslosen Wilden. Er sparte seinen Lohn, denn es gab nichts, das er hätte kaufen wollen, aber eine innere Stimme sagte ihm, daß er fortgehen mußte. Er war hier zu nah an dem Anderen Ort, zu nah an der alten Brücke, die dorthin führte. Manchmal dachte er daran, dorthin zurück zu kehren, saß stundenlang zweifelnd und grübelnd am Fluß. Er haßte das Leben, das er jetzt führte, doch die Angst saß noch tief in ihm, hielt ihn zurück. Er mußte diesen Ort der Versuchung verlassen.

    Noch vor seinem fünfzehnten Geburtstag rannte er von zu Hause weg, schlief nachts auf den Feldern, arbeitete gelegentlich, wanderte aber immer weiter nach Osten. In den dunklen Nächten hatte er Alpträume von Wölfen und Monstern, Cats schreiendem Gesicht, den ausgestreckten Ästen von Bäumen. Er zog immer weiter. Er verspürte kein Bedauern, kein Heimweh nach dem Leben und der Familie, die er zurückgelassen hatte. Die quälenden Schrecken der Erinnerungen ließen keinen Platz dafür. Er kamnachBelfast undstrichwie ein verwirrter Eingeborener durch die Straßen. Einmal kamen in einer dunklen Gasse zwei Männer auf ihn zu, und in der Hand des einen funkelte ein Messer. Sein Körper reagierte instinktiv mit einem heftigen Angriff. Er ließ die beiden Männer bewußtlos und blutend zurück. Das Geld, das sie bei sich gehabt hatten, reichte für eine Schiffskarte, und am folgenden Morgen fuhr er ab, sah zum zweiten Mal in seinem Leben das Meer. Die Jahre vergingen. Er wanderte langsam in südliche Richtung durch England, nahm hier und da einen Job an, blieb eine Weile und zog dann weiter. Immer

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