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Der magische Wald

Titel: Der magische Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Kaerney
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galt seine wahre Trauer merkwürdigerweise dem, was sie symbolisierten: dem Ende einer Art zu leben. Eine alte Lebensweise, die dem Land und dem Wachstum der Natur näher war, ging zu Ende; das Land wurde von neuen Anbaumethoden und einem unendlichen Bürgerkrieg überrollt. Das Zuhause, in dem er aufgewachsen war, würde es bald nicht mehr geben. Vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre nachdem er mit der braunen Stute durch das eiskalte Wasser aus dem Brückenbogen gekommen war, warerhier, in London.Erwar ein frühzeitig gealterter Mann, ein Barkeeperund-Rausschmeißer mit Raucherhusten und fünfzehn überflüssigen Kilos. Er hatte die erbarmungslosen Augen eines Totschlägers und eine Boxernase, dicke bläuliche Adern auf den Unterarmen und das rote Gesicht eines Trinkers. Der Junge, der er einmal gewesen war, und sogar der Waldläufer, der mit Cat auf die Jagd gegangen war, waren ein Jahrhundert entfernt, in einer anderen Welt; und weder sie noch die Monster und Wunder, die damals in seinem Leben gewesen waren, würden jemals wiederkehren. Das dachte er jedenfalls.

KAPITEL EINUNDZWANZIG
    Clare schlief, und die Stadt schlummerte mit ihr. Es war heiß im Zimmer; eine schwüle Sommernacht, die von dem orangefarbenen Leuchten der Straßenlaternen nur kümmerlich erhellt wurde. Michael schlurfte zum Fenster, wie so oft in diesen Nächten, schob die Jalousie beiseite, um auf die Straße hinunter zu blicken. Nichts. Und doch konnte er spüren, wie sie ihn beobachteten. Manchmal hatte er das Gefühl, daß seine Sinne wieder schärfer wurden, daß die alte Wachsamkeit wieder da war und ihm ein zusätzliches Augenpaar verlieh. Er spürte Dinge, die man nicht sehen konnte. Nachts roch er manchmal vor seiner Türe den Modergeruch des Waldes, den süßlichen Gestank des Verfalls, und er wußte, daß sie hier gewesen waren. Verkehrsgeräusche, weit entfernt. Das Licht der Straßenlaternen fiel über die Straße, aber überall gab es schattige Winkel. Er wußte zuviel über diese andere Welt. Vielleicht wollten sie ihn deshalb holen. Vielleicht aber auch aus Rache, aus Gier nach dem Blut von jemandem, der ihren geliebten Wald verwundet hatte. Manchmal aber kam es ihm immer noch wie ein Traum vor. Grelle Bilder aus einem anderenLeben,die plötzlichinseinem Kopf auftauchten, aus einem Leben, in dem er ein anderer gewesen war und sich an einem Ort befunden hatte, den es nicht geben konnte. Er hatte Cat dort zurückgelassen. Vielleicht auch Rose. Dieser Schmerz war real genug. Es war unmöglich, sie in seiner Vorstellung zu trennen. Sie waren im Laufe der Jahre miteinander verschmolzen, waren zu einem einzigen schmerzlich geliebten Gesicht geworden. Vielleicht waren sie immer ein und dieselbe Person gewesen. Vielleicht war die Aufgabe, die er sich in der anderen Welt gestellt hatte, von Anfang an ein absurdes Unterfangen gewesen. Vielleicht. Michael zündete sich eine Zigarette an, drehte sich um und betrachtete das schlafende Mädchen in dem Bett. Das Lakenwar ihrvon derSchultergerutscht, und er konnte die Schweißperlen an ihrem Hals sehen. Trotz ihres Unverständnisses und Protestes hatte er das Fenster nicht geöffnet. Es war nicht fair, dieses Mädchen, diese kleine Stadtlady mit in das hineinzuziehen, was ihm bevorstand. Es war nicht richtig. Aber er hatte das Gefühl, daß es zu spät war, um sie herauszuhalten. Sein Geruch haftete an ihr. Er hatte sie gezeichnet. Clare wurde unruhig, drehte sich im Schlaf in dem schmalen Bett auf die andere Seite. Das Laken rutschte zur Seite, und er konnte die Rundung ihrer Hüfte sehen. Ihr Körper war weich und kurvenreich, ganz anders als Cats. Keine Narben, keine Hornhaut unter den Füßen, keine abgebrochenen oder dreckigen Fingernägel. Und dennoch, wenn er an Cats blitzendes Grinsen dachte, ihren lebhaften Blick, dann fühlte er einen Schmerz in der Brust, und Tränen brannten in seinen Augen. Immer noch da, sogar jetzt. Er fragte sich, wie die Zeit für sie an dem Anderen Ort vergangen war, wie schnell oder langsam die Jahre für sie verstrichen waren. Er hatte sie gesehen, hier in diesem Raum ...

    Oder war es reines Wunschdenken gewesen? Verrückt, dachte er. Ich werde verrückt. Es war ein Traum, und jetzt schlafe ich wieder ein, erlebe es noch einmal vor einem anderen Hintergrund. Ein Trio von jungen, fröhlichen Männern schwankte singend die Straßen entlang. Er beobachtete, wie sie unbewußt einen BogenumeinedunkleEckemachten,und wußte, daß dort etwas in der Finsternis lauerte. Er

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