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Der magische Wald

Titel: Der magische Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Kaerney
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in dem großen Auto heulte Michael wie ein Schloßhund. Sie sah nicht viel älter aus als er selbst. Für ihn starb sie in dem Moment, als die Wagentür hinter ihr ins Schloß fiel und der Wagen vom Hof verschwand. Sie hatte seine Welt verlassen und befand sich in einer anderen. Der Tod hatte dort keinen Zugang, und er war sich ohnehin nicht sicher, was er genau bedeutete. Für ihn war der Tod wie ein Brief, der in der Post verlorengeht. Irgend jemand ging an einen Ort, den er sich nicht vorstellen konnte. Für ihn begann der Tod zehn Meilen von zu Hause. Niemand erzählte ihm, wie oder warum sie gestorben war; es war eine Sache, die unter den Teppich gekehrt wurde, eine Leiche im Keller der Familie. Er betete für sie und für das Kind, von dem sie gesagt hatte, daß sie es bekommen würde, aber selbst jetzt war er sich nicht ganz sicher, ob das nicht nur ein Scherz gewesen war. Rose hatte immer gerne Geschichten erfunden. Nach einer-Weile, einer langen Weile — wenigstens drei Jahre — verschwand sie langsam aus seinem Bewußtsein. Rachel übernahm die Betreuung der Hühner, aber es klappte nicht so recht, denn sie mißtrauten ihr, und sie konnte viele der Nester nicht finden. Also gab es nicht mehr so oft Eier zum Frühstück. Und Großmutter hatte einen der Leiharbeiter aus dem Haus geworfen, Thomas McCandless, einen jungen Kerl, der eigentlich noch ein halbes Kind war. Michael erfuhr nie den Grund dafür. Er verbrachte möglichst viel Zeit allein oder mit Mullan. Das war sicherer so. Er hatte die unklare Vorstellung, daß Rose eines Tages zurückkehren würde, daß er eines Morgens zum Platz an der Brücke kommen würde, und sie dort mit den Zehen im Wasser auf ihn warten würde. In den fünf Jahren wuchs er so schnell, daß seine Kleider über Nacht zu schrumpfen schienen. Beunruhigende Haarbüschel erschienen an Stellen, wo vorher keine gewesen waren. Da, wo Rose welche gehabt hatte. Dieser Gedanke war sehr tröstlich. »Demnächst wirst du aus deiner eigenen Haut wachsen«, sagte seine Großmutter zu ihm, hielt prüfend ein Hemd gegen seine breit gewordenen Schultern und schürzte die Lippen. »Und diese Haare! Es sieht aus, als säße ein zottiger Hund auf deinem Kopf. Was soll ich nur mit dir machen?« Er streifte durch die Wälder und Wiesen in der Umgebung der Farm wie ein Wildhüter, oft in Begleitung des alten Mullan. Er wurde groß und geschmeidig, war erst schlaksig, entwickelte sich dann aber auch in die Breite. Und die Arbeit auf der Farm ließ seine Muskeln anschwellen. Die Sonne ließ Sommersprossen auf seinem Nasenrücken sprießen und bräunte ihn, so daß seine grauen Augen hell aus dem Gesicht leuchteten. Rachel ermahnte ihn, weil er immer so ›wild‹ war, schob seinen Kopf über die Spüle in der Küche und schrubbte seinen Hals, während er sich protestierend in ihren kräftigen Armen wand. Und das, obwohl er seit mehr als vier Jahren selbst für seine Sauberkeit verantwortlich war.

    »Du bist noch nicht so groß, daß du in einem Christenhaus mit einem pechschwarzen Hals herumlaufen kannst«, sagte sie. Die Tage, Wochen und Monate kamen und gingen regelmäßig wie die Gezeiten. Dämon starb und wurde von Pat still betrauert. Er würde nie mehr als ungesehener Gast unter dem Eßtisch liegen. Sie begruben ihn ohne viele Worte unten am Fluß, und am Grab berührte Michaels Großvater seine Mütze in einer unbeholfenen Geste, die gleichzeitig Gruß und Abschied war. Nach einer angemessenen Zeit wurde er durch zwei kläffende Welpen ersetzt, und schon bald hefteten sie sich ständig an Pats Absätze wie zwei winzige Doppelgänger ihres grauschnauzigen Vorgängers. Das Land veränderte sich nicht. Vielleicht gab es etwas mehr Autos, die auf den Straßen die Pferde erschreckten, und hier und da wurde ein neues Haus gebaut. Ein paar kleine Waldstücke wurden von Farmern gerodet, die mehr Weideland brauchten, um sich etwas hinzuzuverdienen, und es gab die üblichen Gerüchte von Aufruhr in den Städten. Man erzählte sich, die britische Armee sei erschienen. Diese Neuigkeit führte für ein paar Tage zu einer kaum merklichen Spannung zwischen Pat und Mullan. Aber all das war zu weit weg, als daß man sich lange den Kopf darüber zerbrechen mußte. Seans Kauf eines neuen Traktor war eine viel wichtigere Neuigkeit -ein großer, dröhnender McCormick Cropmaster, der ihren kleinen grauen Massey-Ferguson mickrig erschienen ließ. Er erinnerte Michael an einen roten, glupschäugigen Drachen, der

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