Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
dem?«
»Warum hast du ihr den gerade jetzt gegeben?«
»Wieso gerade jetzt? Den hat sie einen Tag nach eurem Einzug bekommen. Ich wollte ihr eine Freude machen, ich wusste, sie würde sich sehr darüber freuen.«
Also war der Luchs schon in Niklas’ eigenem Haus gewesen, als Ellen Steen überfallen wurde. Das passte doch hinten und vorne nicht zusammen.
»Ich will die Briefe sehen«, sagte er. Er wusste nicht, wie er die Information deuten sollte, die er gerade bekommen hatte.
Reinhard sah ihn an. »Weiß Karianne hiervon?«
»Ich wollte es ihr ersparen.«
»Bis du ganz sicher bist?«
»Bis ich einen Weg gefunden habe, es ihr zu erzählen.«
Reinhard senkte den Blick und strich sich mit dem Handrücken etwas von der Wange. »Ich bin eine arme Seele.«
Niklas wartete auf ein Geständnis.
»Wenn das denn der einzige Weg ist, dich wieder zur Vernunft zu bringen …« Reinhards dünne, sehnige Finger umklammerten die Armlehnen. »Ich habe mich gewisser Fehleinschätzungen schuldig gemacht, Niklas, ganz ohne Zweifel. Aber meine Entscheidungen traf ich immer nur aus Liebe zu Karianne.«
Niklas schluckte.
»Von mir aus kannst du die Briefe sehen. Ich will, dass das hier ein Ende nimmt.«
Er ließ Reinhard auf der schmalen Treppe zur Mansarde vorangehen, um ihn die ganze Zeit im Auge behalten zu können. Sein Schwiegervater bewegte die Beine, als hätte er Gewichte an den Füßen, und legte auf jeder Stufe eine kurze Pause ein. Wenn er das alles nur spielte, dann spielte er es gut, doch Niklas erlaubte sich keine Zweifel. Reinhard hatte ein halbes Leben lang seine Umgebung manipuliert und war ein Meister seines Faches.
Es roch nicht ungelüftet und staubig, wie es in Mansarden sonst gerne riecht, und Niklas ahnte, dass der Alte sich so verhielt, als würde seine Tochter immer noch hier oben wohnen. Karianne hatte ihm den Raum schon einmal gezeigt, und alles war so, wie er es in Erinnerung hatte, sogar der Bettüberwurf war derselbe. Außerdem roch es frisch und sauber. Wahrscheinlich wischte sein Schwiegervater hier regelmäßig Staub, wusch das Bettzeug und lebte in dem Glauben, dass seine Tochter jederzeit zurückkommen würde. Reinhard blieb mit gerötetem Gesicht schwer atmend vor der Tür stehen. Wieder ganz der Gebrechliche. »Ich sage es dir noch einmal«, sagte er. »Ich bin ein jämmerlicher alter Mann. Ich zeige dir die Briefe nur, damit deine Unterstellungen ein Ende finden. Egal, was du da findest, es war genauso, wie ich dir gesagt habe. Ich habe ein paar davon gelesen, vielleicht drei. Mehr nicht.«
»Wo sind sie?«
Reinhard musterte ihn streng. »Tu, was du tun musst, aber mehr bitte nicht. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass jemand ihre Sachen angrapscht …«
»Ich bin ihr Mann. Ich habe nicht vor zu grapschen.«
Mit betrübtem Blick öffnete Reinhard eine Schranktür. »Die Dose steht ganz oben hinten, an die Rückwand geschoben. Hochklettern musst du da schon selber.« Er zog einen Sprossenstuhl vor den Schrank. Als er Niklas’ Zögern sah, trat er ein paar Schritte zurück. Niklas kletterte auf den Stuhl und entdeckte sofort die alte Margarinedose. Sie war schwerer, als er gedacht hätte.
»Willst du alleine sein?«
Niklas schüttelte den Kopf und stellte die Dose auf das Bett. Dann schob er seinem Schwiegervater, der von Minute zu Minute schwächer wirkte, den Stuhl hin. Er selbst spürte auch noch die stechenden Magenschmerzen, aber das Schlimmste war glücklicherweise vorüber. Er ging um das Bett herum, so dass die Dose zwischen ihm und dem alten Mann stand. Darin steckten Unmengen von Briefen, die zu kleinen Bündeln zusammengefasst waren. »Karianne hat von einem erzählt, dessen Briefe gelinde gesagt ein bisschen speziell waren. Der hat sich ganz extrem für sie interessiert.« Wenn der Mann auf dem Stuhl der Verfasser war, hoffte er, dass ihn die Beschreibung traf.
»Die rosa Briefe. Ganz unten.«
Rosa. Das sprach ja schon mal Bände. Er fand die Briefe ganz unten in einer Ecke. »So viele?«
»Sie hat viel mit ihm geschrieben.«
Niklas stutzte. »Ich dachte, sie hätte bloß ein paar von seinen Briefen beantwortet.«
»Natürlich nicht. Sie hat alle beantwortet, bis ihr die Sache allmählich unangenehm wurde.«
Das hatte sie ihm anders erzählt. »Bist du sicher?«
»Das will ich meinen. Sie hat ihm oft noch am selben Tag geantwortet. Vergiss nicht, dass ich ihre Post immer abgeholt und weggebracht habe.«
Und vielleicht auch schrieb.
Er nahm das erste Bündel
Weitere Kostenlose Bücher