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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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die Polizisten näherten, legte der Mann seiner Frau den Arm um die Schultern, als würden die uniformierten Männer bedrohlich auf sie wirken. Niklas bemerkte, dass nur zwei Spuren im Sand zu sehen waren, die bei den Klippen endeten.
    »Neue Puppe und neues Bastfloß?« Lind schlug einen jovialen Ton an, merkte dann aber, dass er schlecht zur Situation passte, und versuchte, ihn mit einem bekümmerten Gesichtsausdruck zu kompensieren.
    Der Alte sah ihm vorwurfsvoll entgegen, als wäre er für die unangenehme Situation des Ehepaares verantwortlich. »Wie beim letzten Mal«, sagte er und trat einen Schritt beiseite.
    Wieder war es eine Porzellanpuppe, wieder eine Puppe aus einer längst vergangenen Zeit. Lind löste sie aus ihrem Netz aus Bast und hielt sie hoch, um sie zu mustern. Diesmal handelte es sich um eine rotgekleidete Schönheit. »Seltsam. Aber nicht unbedingt mehr als das.«
    »Das ist besorgniserregend, höchst besorgniserregend sogar.« Der alte Mann versuchte, eine barsche Miene aufzusetzen, obwohl man ihm die Jahre der Unterwerfung deutlich ansah. »Sagen Sie, gehören Hilferufe nicht zu den Dingen, die die Polizei besonders wichtig nehmen sollte?«
    »Kommt drauf an.« Lind drehte die Puppe in den Händen. »Was sagst du dazu, Niklas?«
    Niklas hätte nicht sagen können, ob sein Kollege die ganze Angelegenheit als Witz betrachtete oder ob Lind tatsächlich nicht ganz entscheiden konnte, was er hiervon halten sollte. »Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das die dritte Puppe innerhalb kurzer Zeit, und alle sind in sorgfältig geflochtenen Booten aus Bast ins Wasser gesetzt worden. Ich hoffe und glaube, dass es eine natürliche Erklärung dafür gibt, aber vielleicht sollten wir doch etwas unternehmen, um der Sache auf den Grund zu gehen.«
    Der Alte nickte und bedachte Lind mit einem strengen Blick. »Wir gehen hier seit fast dreißig Jahren spazieren, im Frühjahr und im Herbst – im Sommer bleiben wir tunlichst weg, denn dann scheint das hier ja ein Ort für Besäufnisse und Streitereien zu sein …« Wieder ein strenger Blick auf den Hüter des Gesetzes. »Aber hier ist noch nie etwas angespült worden, was uns Grund zur Sorge gegeben hätte. Bis heute. Die Puppen sind nicht ins Meer geworfen worden, sie sind auch nicht versehentlich von der Strömung mitgerissen worden. Jemand hat sich die Mühe gemacht, ihnen ein Floß zu bauen, das so konstruiert ist, dass es den einen oder anderen Windstoß aushält – da handelt doch jemand ganz bewusst.«
    »Daran zweifelt auch niemand«, sagte Lind trocken.
    »Sie teilen also unsere Sorge?«
    »Dinge, die man nicht versteht, sind oft ein Nährboden für Ängste.«
    Der alte Mann nahm seine Gattin noch fester in den Arm, als ob er zeigen wollte, dass die Zurückhaltung des Polizisten mehr schadete als nützte.
    Angesichts eines solchen Beschützerinstinkts spürte Niklas einen Stich seines schlechten Gewissens. Der Mann, den er auf Anfang siebzig schätzte, gehörte zu der Sorte Mensch, der sich für seine Liebste jederzeit in schäumende Wogen stürzen würde. Oder sich ohne zu zögern aufschneiden ließe, um ihr welches Organ auch immer zu spenden. Niklas wurde ganz schlecht bei dem Gedanken an Umstände, die für ihn selbst bald Realität werden könnten. Karianne und er hatten nie offen darüber gesprochen, vielleicht weil dieses Thema Spannungen zwischen ihnen aufbrachte. Sie erkannte die Symptome wieder. Zu Anfang waren es geschwollene Knöchel, das Gefühl, dass die Schuhe zu klein wurden, dass die Beine, die sie trugen, nicht mehr zu ihr gehörten. Danach kamen die Finger. Sie waren so dick geworden, dass ihre Hand zum Schluss wie eine kräftige Männerfaust aussah. Wenig später kam die Diagnose, dann die Dialysebehandlung. Und schließlich die Operation.
    »Aber sehen Sie das denn nicht?« Die Frau sah die Polizisten völlig entgeistert an.
    Lind hob die Puppe höher, um sie genau mustern zu können.
    »Ihre Arme …«
    Niklas konnte nichts sehen, was die Reaktion der Frau gerechtfertigt hätte.
    »Sie hat die Arme ausgestreckt wie zu einer Umarmung.«
    Jetzt sah Niklas es auch. Die Arme waren erhoben, der rechte etwas höher als der linke, als wäre die Puppe wenige Sekunden vor der Umarmung in der Bewegung erstarrt.
    »Es gab zwei davon. Sie haben sich umarmt.«
    Niklas begriff immer noch nicht, was die Frau daran so aufregte, und nach Linds Gesichtsausdruck zu schließen, haperte es auch bei ihm mit dem Verständnis.
    »Eine Trennung.«

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