Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
dass du hier die einzige Berühmtheit bist.«
Man hatte sie zur Weihnachtszeit angerufen, und nachdem sie ein paar Wochen darüber nachgedacht hatte, hatte sie sich überreden lassen. Das Wochenblatt hatte am Ende eine tränentreibende Story daraus gemacht – von einer Jugend voller Leid und Einsamkeit zu einem neuen Leben als glücklicher und geheilter Mensch. Auch Niklas hatte seinen Platz in dieser Geschichte gefunden: Man präsentierte ihn als die Liebe ihres Lebens – was er ja durchaus zu sein hoffte, doch als er den Artikel las, war er verlegen und beklommen. Solchen Maßstäben konnte kein Mensch genügen.
»Das war ich damals auch. Nur unter umgekehrten Vorzeichen.« Sie schüttelte sich. Die Brise war jetzt etwas kühler geworden. »Papa war so fantastisch. Er hat sich mit den Lehrern über den Stoff abgesprochen und mich anderthalb Jahre lang zu Hause unterrichtet. Und wenn ich so zurückdenke, muss ich sagen, er ist es nie leid geworden und war nie ungeduldig mit mir. Papa war Rohrleger, kein Lehrer, und er hatte nur eine eher mäßige Volksschulausbildung, auf die er zurückgreifen konnte. Trotzdem war er der geduldigste Lehrer, den ich jemals hatte.«
»So ziemlich einmalig. Wenn man bedenkt, dass er sich die ganze Zeit allein um dich kümmern musste.«
»Nicht nur ziemlich.«
Sie hatte das Gefühl, in der Schuld ihres Vaters zu stehen, dass sie zurückzuzahlen musste, was sie von ihm bekommen hatte, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass seine Krankheit im Grunde nichts anderes war als die Sehnsucht nach ihr.
»Und die Briefe waren auch seine Idee?«
Sie nickte. »Dreizehn-, Vierzehnjährige haben Pflichtbesuche schnell über, und die Abstände zwischen den Besuchen wurden immer länger. Am Ende waren sie für mich und meine Klassenkameraden nur noch peinlich und seltsam. Mit den Briefen funktionierte das einfach besser. Papa forderte meine Schulkameraden auf, mir zu schreiben, das konnten Briefe sein, aber auch Zeichnungen oder Geschichten, die sich die ganze Klasse ausgedacht hatte. Du weißt schon, wenn einer anfängt, und der Nachbar muss den nächsten Satz erfinden und so weiter.«
Er hatte das alles schon gehört. Oft sogar. Und ab und zu merkte er, wie er im Schatten ihres Vaters zusammenschrumpfte. Aber er nahm an, dass sie im Moment das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen. Immerhin hatte sie Niklas hierhergeschleppt und ihn überredet, sich von einem Arbeitsplatz beurlauben zu lassen, den er eigentlich gerne mochte. »Aber bei einem war das Mitleid noch größer als bei den anderen«, sagte er, um ihr zuvorzukommen.
»Einer von den Schülern. Natürlich blieb er anonym, man konnte ihn unmöglich ausfindig machen, weil mir ja alle schrieben. Aber dieser Junge … wurde irgendwie fast so was wie meine erste Liebe.«
»Aber nicht die größte?«
Sie fing seinen Blick auf und lächelte. »Nein, nicht die größte. Aber das bewirkt schon etwas in einem Mädchen in dem Alter, das immer nur krank und ausgeschlossen zu Hause liegt, und dann hat es plötzlich einen heimlichen Freund, der sich aufrichtig um ihr Wohlergehen sorgt und lange einfühlsame Briefe schreibt.«
»Hast du alle Briefe beantwortet?«
»Nur die ersten zwei, drei. Mehr schaffte ich nicht, bis schon wieder die nächsten im Briefkasten lagen. Papa fand das nicht so toll. Er hat nie etwas gesagt, aber ich hab es ihm angesehen. Er fand wahrscheinlich, dass es ein bisschen zu viel des Guten wird.«
»Vielleicht war dieser heimliche Freund genau das, was du damals gebraucht hast.«
»Er war ein Lichtblick, ja, obwohl es sich im Laufe der Zeit ein bisschen komisch anfühlte, irgendwie … ich weiß nicht.«
»Spooky?«
»Vielleicht. Es wurde einfach ein bisschen zu viel. Aber es war ja nicht das erste Mal, dass ich mich so bewundert fühlte.«
»Ach nein?«
Sie schenkte ihm ein schiefes Grinsen. »Da war damals ein Mädchen, das ging in die siebte oder achte Klasse, als ich in die Schule kam. Aus irgendeinem Grund war sie total begeistert von mir, sie nannte mich einen Charmekobold. Einmal hat sie was gesagt, was ich nie wieder vergessen werde, vielleicht weil es mir dann eben später so ergangen ist. Sie sagte, sie wünschte, sie könnte eines Morgens aufwachen und in meinem Körper stecken. Dass wir einfach Plätze tauschen. Unglaublich süß, oder?«
»Jetzt verstehe ich auch, warum du dich nach Hause gesehnt hast. Hier bewundern dich alle. Das verheißt ja nichts Gutes.«
»Du Blödmann.« Sie
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