Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
drohte ihm mit der Faust. »Aber ein bisschen war es schon so, ja. Später, nach der Operation, zeigte einer ganz deutlich sein Interesse.«
»Und, ist was draus geworden?«
»Niklas!«
»Ich meinte doch bloß, ob er dein Freund geworden ist?«
Sie lächelte schelmisch. »Ich glaube, das Schicksal hatte dich schon auserkoren. Der Arme brach sich ein Bein und musste mehrere Wochen im Bett liegen. Danach war sein Interesse einfach weg. Leider. So langsam aber sicher hatte ich mich nämlich doch für den Kerl interessiert.«
»Übrigens …« Er rückte näher. »Lind hat da gestern so was erwähnt, als er vom Wanderer sprach.«
»Konrad, ja. Puh. Der tut mir echt leid.«
»Er hat gesagt, dass seine Schwester abgehauen ist.«
»Hat er das gesagt?«
»Nicht direkt. Er ließ es aber durchblicken, obwohl er gesagt hat, dass sie verschwunden ist. Er hat etwas von einer gestörten Familie erwähnt, und dass Ausreißen vielleicht einfach die am wenigsten schmerzliche Alternative gewesen wäre.«
»Ich weiß nicht. Ich habe immer gedacht, dass sie irgendwo abgestürzt ist und ihre Leiche einfach nie gefunden wurde. Aber Gott bewahre, nichts wäre schöner, als wenn es ihr heute wunderbar ginge – obwohl ich da so meine Zweifel habe.«
»Trotzdem, wirklich eine heftige Geschichte.«
»Konrad macht sie so heftig. Wenn jemand Tag für Tag, Jahr für Jahr so gräbt, sieht das schon nach einer starken Verbindung zwischen den Geschwistern aus.«
Sie schwiegen eine Weile, dann sagte sie: »Glaubst du, du kannst dich hier wohlfühlen?«
»Es wird sicher eine Umstellung. Von blutigen Abrechnungen zwischen irgendwelchen Gangs zu Puppen, die mit der Flut an Land geschaukelt kommen. Bis jetzt kommt es mir schon noch so vor, als hätte es sich zum Besseren verändert.«
Sie lächelte schwach. »Ich meine es ernst, Niklas.«
»Ich auch.« Er hob ratlos die Arme. »Mir tut es nicht leid. Höchstens um dich, weil du dich hier den ganzen Tag langweilen musst.«
Sie hatte ein übertriebenes Bedürfnis, in jeder Hinsicht allein zurechtzukommen. Er schrieb diesen Drang all den Jahren zu, in denen sie kränklich und hilflos gewesen war. Jetzt hatte sie keine Arbeit, und die Aussichten, demnächst eine zu finden, waren nicht gerade die besten.
»Das kommt schon in Ordnung«, sagte sie. »War bis jetzt doch immer so, weißt du nicht mehr?«
Sie hatte schon öfters erwähnt, dass sie irgendeine Hand über sich spürte, die sie beschützte. Die Theorie hatte neue Nahrung erhalten, nachdem ein Hobbyastrologe behauptete, sie sei zu einem besonders günstigen Zeitpunkt geboren.
»Dein Glücksstern?«
»Vielleicht. Ich glaube aber eher, dass mein Glücksstern Reinhard Sund heißt.«
Ihr Vater war zum Witwer geworden, als sein einziges Kind gerade zwei Jahre alt war. So etwas hinterließ eben seine Spuren.
»Inwiefern?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich war die Dritte auf der Warteliste für die Handelsschule. Das waren damals noch andere Zeiten, sowohl was die Aufnahmebedingungen als auch die Menge der Bewerber anging. Es gab kaum Alternativen, und Leute, die sich für eine weiterführende Schule bewarben, wollten auch wirklich auf eine weiterführende Schule gehen. Drei Tage vor Schulbeginn bekam ich einen Bescheid, dass ich aufgenommen war.«
»Sind andere zurückgetreten?«
»Es gab da so Gerüchte von einem Extraplatz.«
»Du meinst, da ist getrickst worden?«
»Schätze mal.«
»Egal, das muss man ihm schon verzeihen. Du hattest den Platz verdient.«
»Vielleicht. Aber ich befürchte, dass er jetzt auch schon wieder das Ruder übernommen hat.«
»Hast du mal wieder Phantomschmerzen im Einbildungsnerv?«
»Ich kann nicht wirklich glauben, dass er nur simuliert, aber trotzdem habe ich das Gefühl, er hat sich schon seit einer Weile gewünscht, dass ich endlich heimkomme, koste es, was es wolle. Kannst du dich an die Broschüre erinnern, die im Winter gekommen ist?«
Er konnte. Ein marktschreierisches Blatt über eine Gemeinde im Wachstum, das potenziellen Zuzüglern versprach, dass sie sich hier unglaublich wohlfühlen würden. »Wahrscheinlich schreiben die einfach ganz gezielt die Leute an, die von hier mal weggezogen sind.«
»Da bin ich mir eben nicht so sicher.«
»Glaubst du, dass er dahintersteckt?«
Sie senkte den Kopf, als würden ihr die Worte schwerfallen: »Ja, eigentlich glaube ich das.«
»Ganz schön schlau.«
»Und auch die Sache mit dem Haus der Witwe Gabrielsen.«
Einer der Hinterbliebenen
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