Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
hatte sie angerufen, weil er meinte gehört zu haben, dass Karianne Pläne habe, wieder nach Hause zu ziehen, und an niemand verkaufe man doch so gern wie an einen Einheimischen, nicht wahr? Sie hatte das Angebot höflich abgelehnt.
»Glaubst du, das war auch er?«
»Ich denke mal.«
Neuerliches Schweigen. Der Gedanke, dass die Krankheit ihres Vaters möglicherweise erfunden sein könnte, fiel ihr schwer.
Niklas’ Handy vibrierte in seiner Tasche. Es war sein Kollege.
»Ich bin grade unterwegs nach Storvollan. Hast du Lust mitzukommen?«
»Was ist denn passiert?« Er hatte eigentlich Überstunden abbauen wollen, um mehr Zeit mit Karianne verbringen zu können.
»Um ehrlich zu sein, ich muss zum Strand.«
»Eine neue Puppe?«
»Du findest dich ja schon bestens zurecht. Vor einem Monat hättest du das noch nicht erraten.«
Er setzte einen schuldbewussten Blick auf, doch Karianne bedeutete ihm mit einer Geste, dass sie es schon verstand.
»Okay. Wann bist du hier?«
»In fünf Minuten.«
»Ich brauche aber so zehn bis zwölf. Wir sind gerade ein bisschen bergwandern.«
»Hügel, Niklas. Du bist hügelwandern. Wenn du in den Bergen wärst, würdest du länger als zehn Minuten brauchen, um runterzukommen. Es sei denn, du springst. Ich warte auf dich.«
»Ich dachte mir, du willst vielleicht mitfahren.« Amund Lind lehnte sich an die Tür. Leichter Parfumduft erfüllte das Coupé. »Es ist mir wichtig, dass du mitkriegst, was so passiert. Ich will nicht, dass du mir hier verkümmerst.«
Niklas war den ganzen Weg gerannt und atmete immer noch so heftig, dass das Seitenfenster beschlug.
»K. o.?«
»Das ist so eine Zwangshandlung. Wenn ich sage zehn bis zwölf Minuten, dann erlaube ich mir nicht, dreizehn zu brauchen.«
Lind grinste breit und entblößte eine Zahnreihe, die so schief war wie ineinandergeschobene Eisschollen im Polarmeer. »Zwangshandlungen werden unterschätzt.«
»Du hast gesagt, es wurde eine neue Puppe gefunden?«
»Gleicher Ort, gleicher Finder. Er hat angerufen, aber ich hab sie im Hintergrund gackern hören. Wahrscheinlich ist sie die Urheberin dieses ganzen Aufstands.«
»Was meinst du? Ich meine, es ist immerhin schon die dritte Puppe.«
Lind zog an seiner schlaffen, gereizten Gesichtshaut. Sie glänzte, und Niklas vermutete, dass sein Kollege irgendeine Spezialcreme aufgetragen hatte, ebenso an der Kopfhaut, die am Haaransatz grellrot leuchtete. »Im Grunde komme ich schon ein bisschen ins Zweifeln, was ich glauben soll. Dieses Frauenzimmer hat natürlich überreagiert, aber gleichzeitig ist es schon ein seltsamer Fund. Irgendjemand entsorgt alte Puppen, macht sich die Mühe, jedes Mal ein Floß zu bauen, und überlässt es dann der Meeresströmung, wo es an Land gespült wird.« Lind ließ seine Wange los, woraufhin sie langsam wieder ihre normale Form annahm. »Aber anstandshalber müssen wir der Sache schon ein gewisses Interesse entgegenbringen.«
Niklas kam die ganze Situation schrecklich unwirklich vor. Nun waren sie also unterwegs zu einem Tatort – dem Fundort einer Puppe. Der Übergang von Stadt zu Land schien ja drastischer zu sein, als er sich vorher ausgemalt hatte.
»Vielleicht war es dumm von mir, euer Idyll zu stören. Du hast gesagt, ihr seid beim Bergwandern?«
»Hügel. Mit Karianne, meiner Frau.«
»Karianne, genau. Die Heimgekehrte. Nach dem Motto Zu Hause ist es immer noch am schönsten , was?«
»Die Umstände sind schon recht speziell. Ihr Vater ist krank, wir wohnen in einer nicht besonders komfortablen Bude, und ihr wird die Zeit sehr lang so ohne Arbeit.«
»Ihr habt auf Strømmen gewohnt, oder?«
»M-hm. Die letzten vierzehn Jahre.«
»Da ist es schon schön.«
»Warst du schon mal da?«
»Ein paar Mal. Ich hab in der Nähe Urlaub gemacht.«
»Du machst Urlaub in Norwegen?«
»Immer.«
»Freiwillig oder …?« Niklas hatte schon selbst erlebt, in welchen Fragen Männer dazu verurteilt waren, die zweite Geige zu spielen.
»Freiwillig. Ich lebe allein und mache auch allein Urlaub.«
Niklas fragte nicht näher nach, weil er spürte, dass sein Kollege das Thema lieber fallen lassen wollte.
Der Strand lag an einer Stelle, an der zwei hoch aufragende Klippen eine Schlucht bildeten. Die Sandmassen krochen unablässig weiter ins Binnenland, da die Erosion Jahr für Jahr mehr Erdboden abtrug.
Das alte Ehepaar stand am Meeresrand, als wollten sie die Puppe nur ungern anfassen oder unbedingt zeigen, wo genau sie sie gefunden hatten.
Als sich
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