Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
»Sie ist eine der Abteilungsleiterinnen in der Bank.«
»Führen Sie uns weiter durchs Haus?«
Die Frau warf einen unsicheren Blick auf Lind, als wüsste sie nicht recht, ob sie seinen Tonfall als freundlich oder gebieterisch auffassen sollte. Niklas fühlte mit ihr, denn er fand, dass sein Kollege die Situation ziemlich ungeschickt handhabte. Lind konnte einen ganz schön ungehobelten Eindruck machen, als fehlte bei einer seiner Antennen die Feineinstellung.
Sie hatten sich rasch davon überzeugt, dass in beiden Geschossen dieselbe Ordnung herrschte und Ellen Steen keine Puppen besaß.
»Habe ich doch gleich gesagt.« Sie waren wieder unten im Wohnzimmer, und die Tante erholte sich langsam von ihrem Schrecken.
»Ich nehme an, dass sie als Kind mit Puppen gespielt hat, wie die meisten Mädchen.« Lind wollte sich nicht geschlagen geben.
»Aber was um Himmels willen …«
»Vielleicht mit Porzellanpuppen?«
Die alte Frau starrte ihn an. Offensichtlich ging ihr die Verbindung zwischen ihrer Nichte und den gestrandeten Puppen sehr gegen den Strich. »Damals hat sie mit Barbiepuppen gespielt, wie die meisten. Ich habe sie nie mit einer Porzellanpuppe gesehen.«
Niklas, der merkte, dass die Tante schon wieder kurz davor stand, sich aufzuregen, griff ein. »Haben Sie engen Kontakt zu Ihrer Nichte?«
»Natürlich. Ich bin ja die Einzige, die sie hat.«
»Haben Sie in letzter Zeit irgendetwas an ihr bemerkt, irgendetwas Auffälliges in ihrem Benehmen vielleicht?«
»Nein, was sollte das denn sein? Ellen ist ein sehr beständiges Mädchen.«
»Daran zweifeln wir auch gar nicht, aber wir können die Augen nicht vor der offensichtlichen Tatsache verschließen, dass ihr jemand etwas antun wollte.«
»Das muss einer von diesen Leuten gewesen sein, die bei ihr einen Kreditantrag gestellt haben.« Wieder flüsterte sie. Sie hörte sich an, als wäre es schon ein halbes Leben her, dass sie selbst jemandem Geld geschuldet hatte. »Ja, so einer, der nicht bekommen hat, was er wollte«, fügte sie hinzu. »Das ist ja ihr Job. Sie muss dafür sorgen, dass die Dinge da glattlaufen.«
»Hat sie etwas in der Richtung gesagt?«
»Oh nein, Ellen doch nicht. Sie tratscht nicht.« Sie hob die Stimme, damit die beiden auch ja verstanden, was sie ihnen sagen wollte.
Niklas ahnte, dass so schnell nichts an dem Bild rütteln würde, das die Tante von ihrer großartigen Nichte hatte. »Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte …«
»Was sollte das denn sein?«
Er spürte den Drang, ihr zu erklären, dass es noch eine
reale Welt außerhalb ihres selbstgebastelten Idylls gab, doch er verbiss es sich. »Denken Sie einfach daran, dass Dinge, die weniger wichtig erscheinen, oft das Detail sein können, das zur Lösung eines Falls führt.«
Die Frau schluckte. »Sind Sie hier jetzt fertig?«, fragte sie und ging demonstrativ zur Tür.
Niklas musste im Stillen zugeben, dass er ein wenig voreingenommen gewesen war. Der Mann, den alle den Wanderer nannten, wohnte überhaupt nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Das Haus war zwar klein, doch offensichtlich gepflegt und gut instand gehalten, ebenso wie das kleine Gärtchen.
Brocks hatte darauf bestanden, dass sie sich, um Zeit zu sparen, aufteilten und vorgeschlagen, dass Niklas den Wanderer aufsuchen sollte. Vielleicht bringt es ja etwas, meinte er, wenn Konrad ein neues Gesicht vor sich sieht. Denn gerade zu Korneliussen, dem Polizisten, den Niklas vertrat, hatte der Mann ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut, während er allen anderen Polizisten gegenüber ein tief verwurzeltes Misstrauen zu hegen schien.
Doch dann stand er vor verschlossener Tür, obwohl es aus Kübeln schüttete. Es war also keine Übertreibung gewesen: Der Wanderer grub ohne Rücksicht auf Wind und Wetter. Niklas ging hinters Haus und bemerkte eine Reihe von Vogelkästen unter dem Dach, mindestens fünfzehn Stück. Er warf einen Blick durch eines der Fenster, das auf der windgeschützten Seite lag. Sein Eindruck bestätigte sich, der Wanderer schien sehr ordentlich zu sein.
Er beschloss, sich in sein Büro zurückzuziehen, setzte sich in das Auto und ließ den Motor an. Die Scheibenwischer schaufelten das Regenwasser von der Scheibe und verschafften ihm für wenige Zehntelsekunden einen freien Blick, bevor ein neuer Wasserschwall die Scheibe übergoss. Gleichzeitig meinte er jedoch, oben am Waldrand jemanden auftauchen zu sehen. Und ganz richtig, es war der Wanderer, wie einem klassischen Horrorfilm
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