Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
mir leid, aber ich muss wohl noch mal in das Haus Ihrer Nichte.«
»Haben Sie denn noch nicht genug herumgewühlt?«
»Bald.« Er streckte demonstrativ die Hand aus.
Mit einem resignierten Seufzer nahm sie den Schlüssel von einem Haken hinter der Tür und zog einen Mantel vom Kleiderbügel.
»Ich würde das lieber alleine machen.«
Sie erstarrte. »Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Ermittlungsarbeit ist zu siebzig Prozent Intuition, und wenn man möchte, dass das Unterbewusstsein voll mitarbeitet, muss man alleine sein.« Eine spontane Lüge, doch sie wirkte. Widerwillig hängte sie ihren Mantel zurück. »Das gefällt mir gar nicht«, sagte sie.
»Mir auch nicht. Aber es muss sein.«
Fünf Minuten später stand er wieder in Ellen Steens Wohnzimmer. Ordnung war der massive erste Eindruck, und gerade deswegen wollte er nach einem Riss in dieser Fassade suchen. Wieder machte er eine Runde von Zimmer zu Zimmer. Er ließ sich Zeit, öffnete alle Schubladen und Schränke und suchte, ohne etwas zu zerwühlen. Zum Schluss war er wieder dort, wo er angefangen hatte, im Wohnzimmer. Er hatte das Gefühl, dass der Ausgangspunkt der falsche gewesen war, dass die Antwort hier irgendwo lag, er sie aber nicht sah. In dem Moment dämmerte es ihm, und es war so selbstverständlich, dass er es vielleicht gerade deswegen übersehen hatte. An den Wänden hingen keine Familienfotos, nicht mal von der herzensguten Tante. Auch wenn Ellen Steen kinderlos war, gehörte sie doch zum Zweig einer Familie. Er drehte noch eine Runde, diesmal auf der Suche nach einem Fotoalbum, doch verewigte Erinnerungen schienen nicht Ellen Steens Sache zu sein, und so kehrte er mit leeren Händen zu ihrer Tante zurück.
»Ich kann mir vorstellen, wie es da drüben jetzt aussieht«, sagte sie mit grimmiger Miene.
»Ich habe alles an seinem Platz belassen.« Er reichte ihr den Schlüssel. »Ich habe kein Fotoalbum gefunden. Ich dachte immer, so was gehört zum festen Inventar in jedem Zuhause.«
Die Tante verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. »Ich habe ihr Album.«
Wahrscheinlich hatte sie es entfernt, damit die Polizisten nicht in die Privatsphäre ihrer Nichte eindringen konnten. »Könnte ich vielleicht mal einen Blick hineinwerfen?«
»Wozu soll das gut sein?«
»Es gehört zur Ermittlungsarbeit, dass man sich mit den Menschen aus dem Umfeld des Opfers vertraut macht.«
»Das sind bloß Verwandte und Freunde.«
»Die uns vielleicht bei den Ermittlungen weiterhelfen könnten.«
»Na gut.« Sie drehte sich um und ging resigniert nach drinnen.
Er folgte ihr in eine mit Nippes überladene Küche, wo sie ein Album aus einer Schublade zog. »Ellen hat sich nie groß damit abgegeben, Fotos zu knipsen«, sagte sie, als wollte sie entschuldigen, dass es nur ein Album war. Während ihm die Tante gegenübersaß, blätterte er es langsam durch. Abgesehen von der Tante und dem verstorbenen Onkel waren auf den meisten Bildern nur die Männer ihres Lebens zu sehen. Außerdem gab es Fotos von einer Reise in den Süden mit
einer Freundin. Aber den erstaunlich exakten Zeit- und Ortsangaben der Tante nach zu urteilen, gab es auf jeden Fall auch Jahre, von denen keine Fotos existierten. In einem Umschlag ganz hinten lagen Bilder schlechterer Qualität, manche vergilbt, manche mit matten Farben. Die Tante zog ein trauriges Gesicht, als sie ihm auf den Bildern die Eltern zeigte. Aus Anstand überblätterte er rasch die Bilder, die nicht relevant waren. Ein Klassenfoto schloss die Bilderserie ab. Die Tante schwelgte mit glänzenden Augen in Erinnerungen, bevor sie das Album resolut wieder an sich nahm und zuschlug. Niklas dachte, dass er nicht wirklich weitergekommen war, aber dann kam ihm doch noch ein Gedanke. »Das Klassenfoto …«, sagte er.
»Was ist damit?«
»Das war von der siebten Klasse, oder?«
»Ja, hab ich Ihnen doch gesagt.«
»Wohnt einer von den Mitschülern heute noch hier?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Nicht alle bleiben ihren Wurzeln so treu wie Ellen.«
»Könnten wir das Bild bitte noch einmal ansehen?«
»Du lieber Himmel, Ellen liegt im Koma, und Sie quengeln hier herum wegen einem alten Klassenfoto.« Die Alte zog eine Grimasse und sackte in sich zusammen. Ihr magerer Körper wurde von stillen Schluchzern geschüttelt.
»Irgendetwas sagt mir, dass das Motiv für dieses Verbrechen weit in der Vergangenheit liegt. Ich dachte mir, wenn einer von ihnen immer noch hier wohnt …«
Die Tante machte eine
Weitere Kostenlose Bücher