Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
glaube auch nicht, dass Tommy wüsste, wie er damit umgehen soll. Er weiß, dass sein Papa ein Schnorrer ist.«
»Hat er jetzt Kontakt mit dir aufgenommen, nachdem das passiert ist?«
Neuerliches Schweigen. Er schätzte, dass Renate Øverlid den Kopf schüttelte. »Es ist so wahnsinnig … professionell.« Das war eine der anderen Frauen. »Ich meine, wie die Zeichnungen so positioniert wurden, dass sie sie einfach ansehen mussten.«
»Als wären sie von den Kindern selbst gemalt worden«, stimmte eine andere zu.
»Ich weiß nicht …«
»Was denn, Vigdis?«
Rino nahm an, dass es sich um Vigdis Zakariassen handelte, die Exfreundin von Nils Ottemo.
»Ehrlich gesagt, ich finde nicht, dass Nils es verdient hat, auf Lebenszeit entstellt zu werden. Außerdem ist es noch nicht mal sicher, ob sie beide Arme retten können. Ich finde, das geht zu weit. Was kommt als Nächstes, habt ihr darüber schon mal nachgedacht? Ina? Ist als Nächstes vielleicht Gunnar dran? Was, wenn dieser Rächer ihm den Arm abschneidet, würdest du das für eine passende Strafe halten?«
»Denk an die Kinder, Vigdis.«
»Christer geht es nicht besser, wenn sein Vater wie eine Missgeburt durch die Gegend laufen muss. Und wenn die Polizei schon bei Renate vor der Tür stand … ich befürchte, dass sich das Ganze am Ende gegen uns wenden könnte. Vielleicht stehen sie morgen vor meiner Tür, und was dann?«
»Ja, was wäre denn dann, Vigdis? Hast du ihm etwa die Arme verbrannt?«
»Nein, aber vielleicht muss ich am Ende dafür büßen. Dann wäre ich ja doppelt gestraft.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich weiß nicht, vielleicht wäre es am besten, wenn wir alle zusammen zur Polizei gehen und die Karten auf den Tisch legen.«
»Welche Karten denn, Vigdis? Welche Karten sollen wir auf den Tisch legen? Von uns hat doch keine etwas mit diesen Misshandlungen zu tun.«
Schweigen.
»Oder? Vigdis?«
»Ich weiß nicht. Ach, was weiß ich.«
Auf diese Andeutung folgte mehrstimmiger Protest. Er hörte, dass die Frauen sich in dem Raum bewegten, und dann öffnete eine von ihnen plötzlich die Tür zur Schreinerwerkstatt.
16
Andreas Geschichte
Der Mann hieß Edmund. Er war ein Streuner und Gelegenheitsarbeiter, und bei einem dieser vorübergehenden Arbeitsverhältnisse lernte er sie kennen, Andrea, die Frau, die er später heiraten sollte. Er hatte einen Job als Viehhüter auf dem Hof angenommen, auf dem auch das schüchterne Mädchen als Haushälterin arbeitete. Und eben diese offensichtliche Zurückhaltung weckte in ihm Eroberungsdrang und Jagdinstinkt, und vom ersten ausweichenden Blick an wusste er, dass sie sein war, dass sie nicht fähig sein würde, ihm zu widerstehen. Hin und wieder fühlte er auch so etwas wie Hass ihr gegenüber, weil sie ihre täglichen Gewohnheiten änderte und es ihm auf diese Art schwerer machte, sie abzupassen. Doch sowie sie sein Lächeln widerstrebend erwiderte, kannte er kein anderes Ziel mehr. Er vernachlässigte seine Arbeit, verfolgte sie stattdessen auf Schritt und Tritt von morgens bis abends, und wann immer sich eine Gelegenheit bot, war er der Zärtliche, Verständnisvolle, bei dem sie sich entspannte und von dem sie sich schließlich auch verführen ließ. Sie versuchte nicht mehr, ihm auszuweichen, stattdessen verfiel sie in eine kränkliche Resignation. Der Hofbauer und seine Frau gingen so weit, ihr nahezulegen, sie möge ihr Glück anderswo suchen, wobei sie ihr versicherten, dass sie sie für ihr sanftes Wesen liebten und nur ihr Wohl im Sinn hatten, wenn sie sie fortschicken wollten. Sie empfahlen sie dem Eigentümer eines Fischereibetriebs im Nachbarort, gaben ihr noch einen ganzen Monatslohn mit und nahmen tränenreich Abschied. Und Andrea, die schon mit siebzehn Jahren Mutter geworden war, nahm ihre kleine Tochter und verließ den Hof. Am nächsten Tag ging auch Edmund. Als er die Kälber fütterte, warf er auf einmal die Heugabel hin und ging. Der Bauer konnte sich selbst zusammenreimen, dass sein Knecht den Dienst aufgekündigt hatte. Ein paar Wochen später fand er sie und beobachtete sie ein paar Tage, bevor er sich zu erkennen gab. Es war immer noch die alte Andrea, ganz ohne Zweifel, aber sie war gereift, oder besser gesagt, er hatte sie reifen lassen, denn sie ging nicht mehr gesenkten Blickes umher, damit sie ja unsichtbar für ihre Umgebung blieb. Ganz im Gegenteil, sie hatte eine ganz neue Selbstsicherheit, wenn sie den Arbeitern Kaffee und Waffeln servierte, ihre Komplimente
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