Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
sich alle Opfer über einen gewissen Zeitraum in finanzieller Not befunden. Des Weiteren wurden sie beschuldigt – anscheinend mit Recht –, dass sie im Leben ihrer Kinder keine Rolle übernehmen wollten. Die Mütter der Kinder oder zumindest zwei von ihnen hatten sich verbündet und in ihrer Verbitterung einen Club gegründet. Und wenn er das glauben durfte, was er vorhin gehört hatte, dann war den Müttern die Identität des Täters nicht bekannt, der die Rolle des Kinderrächers übernommen und dazu einen makabren und wohldurchdachten Plan durchgeführt hatte. In vielerlei Hinsicht hatte dieser Rächer einen wesentlich größeren Hass an den Tag gelegt als die Mütter, die trotz allem fanden, dass die Strafen für das Verbrechen unangemessen waren. Die mageren Beschreibungen der Opfer ließen sich auf den Nenner zusammenfassen, dass der Täter stark war und wohl einen Taucheranzug getragen hatte. Zu Anfang hatte Rino geglaubt, es handle sich um eine Vorsichtsmaßnahme, für den Fall, dass es auf See zu einer Rangelei kam und sie ins Wasser fielen, doch inzwischen war er nicht mehr so sicher. Irgendetwas sagte ihm, dass er dem Taucheranzug nicht genug Beachtung geschenkt hatte, wenn es denn überhaupt einer gewesen war.
Er wälzte sich im Bett hin und her. Die Geschehnisse der letzten Tage kreisten in seinem Kopf. Er warf einen Blick auf die Uhr. Zehn nach eins. Er wählte die Nummer seines Kollegen, der nach dem fünften Klingeln abnahm.
»Schläfst du eigentlich nie?« Thomas’ Stimme war anzuhören, dass man ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.
»Nicht bevor ich ein paar überschüssige Gedanken loswerden konnte. Und da musst du jetzt leider herhalten.«
Sein Kollege stöhnte. »Was gibt’s denn?«
»Unsere zwei O’s, Olaussen und Ottemo, haben die schon mal Bilder voneinander gesehen?«
»Ja, aber die kannten sich nicht.«
»Und gibt’s von der Polizei in Bergen irgendwas Neues?«
»Wir haben einen Kurzbericht bekommen …« Sein Kollege flüsterte jetzt. »… Banalitäten in neuer Verpackung.«
»Und keine neuen Beobachtungen?«
»Ein paar, aber eher von der lauwarmen Sorte.«
»Warum sind die so verdammt schweigsam? Man möchte doch meinen, eine Sache von diesen Ausmaßen würde einigermaßen Aufsehen erregen.«
»Der Einzige, den man mit dem Tatort in Verbindung bringen kann, ist ein Kerl, der heute Vormittag am Amundsen-Kai eingebrochen ist, aber den müssen wir wohl eher auf die Liste der Opfer setzen.«
»Jetzt komm ich nicht ganz mit.«
»Der wollte die Brücke besichtigen, bevor sie renoviert wird. Er hat da 1964 wohl einen Brand überlebt. Wenn du mich fragst, hat ihn einfach die Nostalgie überkommen.«
»Hat er noch mehr gesagt?«
»Er erwähnte irgendetwas, dass er in einen Keller gefallen sei und ihn das gerettet habe.«
»Weißt du noch, wie der hieß?«
»Der Mann ist über siebzig, Rino.«
»Von mir aus kann er hundertsiebzig sein. Wie heißt er?«
»Winther. Den Vornamen hab ich vergessen.«
»Bleib mal kurz dran.« Rino lief ins Wohnzimmer und holte das Telefonbuch, das einmal im Jahr im Briefkasten lag. »So viele Winthers gibt es ja nicht hier in der Stadt. Ich les dir mal schnell vor.«
Schon beim zweiten Namen rief der Kollege Stopp. »Herleif war es. Herleif Winther.«
»Dann kannst du jetzt weiterschlafen, Dornröschen. Nacht!«
Er weigerte sich, an diese Häufung von Zufällen zu glauben, er wusste instinktiv, dass dieser Brand etwas zu bedeuten hatte, genauso wie das gesunkene Hurtigruten-Schiff noch seine Bedeutung enthüllen würde. Er wählte die Nummer von Herleif Winther, in der Hoffnung, dass er eher ein Nachtmensch war, doch es läutete lange und gründlich, bis endlich abgenommen wurde. »Ja?«
»Herleif Winther?«
»Wer fragt, und wissen Sie, wie spät es ist?«
»Mein Name ist Rino Carlsen, ich bin Kommissar der Polizei Bodø. Tut mir leid, dass ich Sie um diese Uhrzeit anrufe, aber wenn ich das richtig verstanden habe, besitzen Sie Informationen, die für einen Fall, in dem wir gerade ermitteln, von Bedeutung sein könnten.«
»Und es konnte Ihnen nicht ein bisschen früher einfallen, dass Sie mich dafür anrufen müssen?«
»Früher wusste ich noch nicht, dass Sie in den sechziger Jahren einen Brand am Amundsen-Kai überlebt haben.«
»Wenn Sie sich für die lokale Geschichte interessieren würden, hätten Sie es gewusst.«
»Tut mir leid. Das habe ich nicht mitbekommen.«
»Gut. Jetzt bin ich wach, und ich werde wohl nicht so schnell
Weitere Kostenlose Bücher