Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
ausdruckslos, wahrscheinlich wollte er zeigen, dass es ihm gleichgültig war, wer ihn besuchte.
»Ja?« Es roch sauer, als hätte er von der Erde gegessen, in der er unablässig grub. Vielleicht war seine Sehnsucht mittlerweile schon in Wahnsinn umgeschlagen.
»Niklas Hultin. Ich war gestern schon mal bei Ihnen. Darf ich reinkommen?«
Die Miene des Mannes zeigte keine Regung.
»Ich habe eine Frage zu den Bergen hier. Niemand kennt sie besser als Sie.«
Der Wanderer öffnete die Tür. Unter den Augen sah man Tränenspuren, und um die Nasenlöcher hatte er einen weißen Belag, als hätte er vor Eifer geschäumt. Sein Haar war zu einem unförmigen Bausch getrocknet, geformt von Regen und Wind. Er machte immer noch keine Anstalten, seinen Besucher einzulassen.
»Ich möchte wissen, was für Raubtiere es hier in der Gegend gibt. Große Raubtiere.«
Der Wanderer senkte den Blick. »Das größte überhaupt.«
»Haben Sie … es gesehen?« Niklas spürte die eiskalte Zugluft.
»Keiner will helfen.«
»Wir hoffen alle, dass Sie sie eines Tages finden.«
»Nicht alle.«
»Wer denn nicht?«, erkundigte sich Niklas, als der Satz nicht fortgesetzt wurde.
»Der, der sie begraben hat.«
»Sie glauben also, dass jemand sie getötet hat?«
Die Knöchel an der sehnigen Hand wurden weiß, dann hörte man die Klinke gefährlich knacken. »Ich werde Linea finden.« Jetzt klang seine Stimme gar nicht mehr so monoton.
»Dieses Raubtier …«, versuchte Niklas es noch einmal. Er begann zu frieren und dachte, dass es dem Mann, der nur in Unterhemd und Unterhose vor ihm stand, genauso gehen musste.
»Er hat Linea ermordet.«
»Wer hat Ihre Schwester ermordet?«
»Das Tier.«
»Sie haben es also gesehen?«
Der Wanderer atmete immer noch schwer. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Aber Sie sind sich sicher, dass es ein Tier ist?«
»Der, der Linea ermordet hat, ist ein Tier.« Der Wanderer drehte sich um und ging in sein Zimmer. Niklas folgte ihm zögernd und fand ihn im Wohnzimmer auf demselben Stuhl, auf dem er auch beim letzten Mal gesessen hatte.
»Es kann ein Tier gewesen sein, das Ihre Schwester getötet hat, ein Raubtier.«
Der Wanderer blieb unbeweglich.
»Ist Ihnen der Gedanke schon einmal gekommen? Dass es ein Tier gewesen sein könnte? Dass sie deswegen auch nicht … irgendwo begraben liegt?« Er brachte es nicht über sich, die Tatsache rundheraus auszusprechen, dass sie mit Haut und Haar aufgefressen worden sein könnte.
»Ich bin jeden Quadratmeter abgegangen. Keine Knochenreste.«
»Vielleicht …«
»Nicht mal ihre Ohrringe. Ich hätte ihre Ohrringe finden müssen …«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Niklas die ganze Bedeutung dieser Worte erfasste, und in dem Augenblick begriff er erst wirklich, wie schrecklich sich der Wanderer nach seiner Schwester sehnte. Und wie mühselig seine Suche gewesen war. Wahrscheinlich hatte er jeden Grashalm zur Seite geschoben, jedes Heidekrautbüschel durchsucht, bis er mit Sicherheit wusste, dass er nichts mehr von ihr finden würde. Und daraufhin begann er unter der Erde weiterzusuchen.
»Aber Sie haben kein Raubtier gesehen?« Er versuchte es abermals.
»Gesehen nicht.«
»Gehört?«
Der Wanderer massierte sich den Oberarm. »Ich gehe heim, wenn es dunkel wird.«
Erneutes Schweigen.
»Da ist irgendwas.«
Die Kälte erreichte seine Beine. »Was? Was ist da?«
Der Wanderer krümmte sich zusammen, als ob ihn die Furcht noch in seinem Haus einholen würde. »Im Dunkeln kommt es näher gekrochen. Dann halte ich den Spaten so, dass ich jederzeit zuschlagen kann.«
»Aber Sie haben nie irgendwas gesehen?«
Der abgearbeitete Mann schüttelte den Kopf.
Niklas hatte dasselbe gespürt – dass da draußen irgendwo ein Monster herumlief, das sich als Tier ausgab. »Okay. Dann will ich Sie nicht länger stören. Wissen Sie …« Er hielt inne. Sie hatten die Informationen mit den Klauenspuren noch nicht an die Öffentlichkeit gegeben, doch der Wanderer war ein Mann ohne jedes Netzwerk, ein Mann, der nichts anderes im Sinn hatte, als seine Schwester zu finden. »Die Frau, die am Strand gefunden wurde, hatte Kratzspuren von Klauen auf der Haut. Wir glauben, dass diese Krallen zu einem Raubtier gehören.«
Da geschah etwas. Nervös, als wollte er einen Ausbruch unterdrücken, strich sich der Wanderer mit den Händen über die Oberschenkel, wobei er die Finger krallenartig krümmte.
»Niemand ist häufiger in den Bergen unterwegs als Sie.«
»Ich hab das
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