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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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selbst ausgeschaltet hatte, und hielten die Geräusche seiner Abstinenz gerne aus.
    Andrea sah ihn sich an, heimlich natürlich, sah sich an, wie der Alkohol und die Verachtung fürs Leben ihn hatten altern lassen, seine Haut fahl und bleich gemacht hatten, seine Falten zahlreicher und tiefer. Doch dann wurde ihr plötzlich klar, dass sie ihm Unrecht getan hatte, dass nicht allein die Nachwirkungen des Alkohols für den Verfall seines Körpers verantwortlich waren. Seine Finger wuchsen krumm und schief, und sie sah ganz deutlich, dass er Schmerzen hatte.
    Die Gicht, die mit den ständigen Wetterwechseln einherging, war der Grund dafür, dass er immer seltener fischen ging. Weniger Fisch bedeutete weniger Einkünfte. Und die sinkenden Einkünfte verursachten neue Risse in seinem wankenden Selbstbild und eine Scham, die sich am besten im Alkohol ertränken ließ. Eine böse Spirale, die die Familie in die tiefste Armut trieb.
    Dass es so etwas wie feste Ausgaben gab, schien Edmund immer wieder zu überraschen. Oft saß er einfach wie gelähmt am Tisch und starrte auf die Rechnungen, als ob sich jemand über ihn lustig machen oder – noch schlimmer – ihm etwas Böses tun wollte. Es kam, wie es kommen musste: Eines kalten Herbstmorgens wurde ihnen der Strom abgestellt. Andrea saß gerade am Küchentisch und flickte eine von Konrads Hosen, als es plötzlich dunkel wurde. Zunächst glaubte sie, dass nur eine Sicherung durchgebrannt sei, bis sie merkte, dass Leute vor dem Haus standen. Sie ging hinaus, sah die Männer in den Blaumännern mit dem Logo der Elektrizitätswerke auf der Brust und dachte in ihrer Verwirrung, dass sie wohl gekommen waren, um irgendetwas auszutauschen, doch dann fing sie den Blick eines der Männer auf und bemerkte seinen Gesichtsausdruck, und da begriff sie, dass sie ihr das Licht abgedreht hatten. Sie sahen sich ein paar Sekunden an, ohne ein Wort zu sagen – er schämte sich, seinen Job zu machen, sie schämte sich, in so einer Situation zu sein. Er hob resigniert die Hände, als wollte er sich entschuldigen, bevor er etwas sagte, was sie nie wieder vergessen sollte: »Ich hoffe, es macht Ihnen nicht zu viel Unannehmlichkeiten.«
    Das war die Untertreibung des Jahres, aber sie wusste, dass er sich auf seine tollpatschige Art entschuldigen wollte, während er gleichzeitig unmöglich begreifen konnte, welche Konsequenzen das für sie hatte.
    Ein paar Stunden später klopfte derselbe Mann wieder an die Tür. Sie dankte ihrem Herrgott, dass Edmund gerade beim Fischen war, und dachte mit Grauen daran, wie eifersüchtig er geworden wäre, wenn er hiervon gewusst hätte.
    »Wir haben keinen Bescheid erhalten, dass wir den Strom wieder anschalten sollen«, erklärte er.
    »Nein«, sagte sie. Ihr fiel nichts ein, was sie sonst noch hätte sagen können.
    Sie blieben so stehen. Es schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen, bis er schließlich sagte: »So sollte keiner leben müssen. Für heute Nacht sind Minusgrade angekündigt. Da sollten alle Strom haben.«
    Ohne jede Vorwarnung brach sie in Tränen aus. Mit gebeugtem Rücken und ineinander verkrampften Händen ließ sie ihrer Verzweiflung freien Lauf. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, woraufhin sie so zurückfuhr, dass sie sich den Ellbogen am Türrahmen anschlug. Panisch sah sie sich um.
    »Verzeihen Sie … so war es nicht gemeint.«
    Stotternd versuchte sie ihre Reaktion zu entschuldigen.
    »Ich schalte den Strom trotzdem wieder an.«
    Sie blickte zu ihm auf, in das netteste Gesicht, das sie je gesehen hatte, und spürte, dass ihre Knie unter ihr nachzugeben drohten.
    »Außerdem möchte ich, dass Sie sich mit dieser Dame hier unterhalten.« Er reichte ihr einen Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer. »Ich habe ihr die Situation erklärt. Sie arbeitet im Sozialamt und hat schon dafür gebürgt, dass die Stromrechnung bezahlt wird. Aber aus formalen Gründen muss sie mit Ihnen sprechen. Wenn Sie wollen, kann ich Sie jetzt hinfahren, ich habe denselben Weg.«
    Sie hörte die Worte, aber konnte sie kaum richtig aufnehmen.
    »Ich kann nicht …«
    »Ich fahre Sie auch wieder nach Hause. Sie sind in einer Stunde wieder zurück, rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit.« Und sie tat das Undenkbare, nahm Linea auf den Arm und fuhr mit ihm mit.
    Andrea war nicht mehr so froh und glücklich gewesen, seit Thea das Glück in ihr Leben gebracht hatte. Die Stromrechnung war bezahlt, und dazu hatte sie noch einmal dreitausend Kronen in der Tasche.

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