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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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Tier nie gesehen.« Es klang eher so, als wünschte er sich, es niemals zu sehen.
    Niklas sah vor sich, wie sich der Wanderer in regelmäßigen Abständen aufrichtete, um den schmerzenden Rücken durchzustrecken, den Spaten abstellte und lauschte. Die ganze Zeit witterte er das Böse, das ihn umgab, das Böse, das seine Schwester getötet hatte. »Die ermordete Frau war so gekleidet wie eine der Puppen, die ich Ihnen gezeigt habe.« Ein letzter Vorstoß.
    Man hatte ihm den Wanderer als schlichtes Gemüt beschrieben. Doch inzwischen war Niklas vom Gegenteil überzeugt. Dieser Mann verbarg ein tiefsinniges Wesen hinter seiner schlichten Fassade.
    Niklas blieb noch eine Weile stehen, bis er sich schließlich wortlos verabschiedete. Auf der Treppe kam ihm schon die Sintflut entgegen. So einen Regen hatte er noch nie erlebt, und in den paar Sekunden, die er bis zum Auto brauchte, wurde er völlig durchnässt. Kaskaden von herabpeitschendem Regenwasser nahmen ihm jede Sicht, und zu guter Letzt verfuhr er sich auch noch. Seine Gedanken waren vom Weg abgekommen, und er gleich mit. Er blieb an einer kleinen Abfahrt stehen, holte sein Handy heraus und wählte Linds Nummer.
    »Bei diesem Fall geht es um Nähe«, sagte er.
    »Das haben wir wohl die ganze Zeit geahnt. Wir haben angefangen zu überprüfen, ob es irgendwelche Berührungspunkte zwischen ihnen gab.«
    »Ich glaube, sie standen einander nahe.«
    »Ich glaube, du brauchst selbst ein bisschen Nähe. Nutz deinen freien Abend, es kann eine Weile dauern, bis du wieder einen hast. Fahr heim zu Karianne.«
    Das hätte er natürlich tun sollen. Stattdessen blieb er jedoch im Auto sitzen und hatte das Gefühl, dass er langsam zu verstehen begann. Denn das letzte Opfer bedeutete eine Richtungsänderung. Der Täter wollte ihnen etwas mitteilen.
    Die deutende Hand.
    Nach wie vor verwirrten ihn allerdings die Klauenspuren. Sollten sie symbolisieren, dass die Opfer vom Tier gezeichnet waren? Denn ein normales Raubtier hätte sich nicht mit einem Kratzer begnügt, um dann zu verschwinden.
    Glaubte er jedenfalls.
    Und die Assoziation, die die tote Frau in ihm geweckt hatte, wurde er auch nicht los. Sie hatte ausgesehen wie ein misshandeltes Kind. Vielleicht ein Kind, das Trost bei Puppen suchte? Es ging hier definitiv um Nähe. Und um mehrere Jahrzehnte alte Puppen.
    Zehn Minuten später war Niklas bei Lilly Marie, nur um zu entdecken, dass sich der Weg zu ihrem Haus in einen Fluss verwandelt hatte. Er fuhr zurück zu einer kleinen Abfahrt, stellte das Auto ab und marschierte in den Sturzregen hinaus. Er hatte noch nie unter einem Wasserfall gestanden, doch er nahm an, dass es sich wohl so ähnlich anfühlen musste. Der Regen peitschte durch die Luft, hämmerte gegen Kopf und Kleider, spritzte in kleinen Fontänen vom Boden auf. Bald rann ihm das Regenwasser in den Kragen, und er war mehr oder weniger komplett durchgeweicht, als er das Haus erreichte. Er blieb vor der Tür stehen, denn plötzlich zweifelte er, ob es eigentlich passend war, so spät am Abend noch bei ihr aufzutauchen. Außerdem saß Karianne zu Hause und wartete auf ihn, an dem wahrscheinlich einzigen freien Abend, den er in nächster Zeit haben würde. Während er dort stand und den Kopf mit der halb hochgezogenen Jacke vor dem Regen schützte, flüsterte ihm sein Unterbewusstsein zu, dass er beobachtet wurde. Er fuhr herum und meinte in kurzer Entfernung einen unförmigen Schatten zu erkennen, der sich über den Boden bewegte. Doch die Sicht war zu schlecht, und nachdem er sich die Regentropfen aus den Augen geblinzelt hatte, war der Schatten auch wieder verschwunden. Er ging die letzten Meter bis zur Tür und klopfte. Das Gefühl, von hinten angestarrt zu werden, hielt jedoch an. Er klopfte kräftiger, und Sekunden später ging die Tür auf. Lilly Marie lächelte ihn an. »Ich hatte schon damit gerechnet, dass Sie wiederkommen würden. Wenn auch nicht unbedingt um diese Zeit.«

22
Bodø / Bergland
    Nachdem er Joakim an der Schule abgesetzt und ihm mit schlechtem Gewissen Versprechungen für das nächste Wochenende gemacht hatte, nahm Rino Kurs Richtung Norden. Sieben Stunden und drei Fähren später erreichte er Bergland, ein kleines Dorf, das sich an der Küste geradezu festklammerte. Hier würde es nicht viel globale Erwärmung brauchen, bis die Dörfer im Meer verschwanden. Ein kleiner Streifen urbaren Landes hier und dort, doch meistens kroch der Fuß des Berges zum Meer und zwang die Straße, entsprechende

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