Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
verstellter Stimme, aber trotzdem unverhohlen zärtlich.
Der Mann ließ die Hände sinken und begann sanft hin und her zu schaukeln, während er in regelmäßigen Abständen ihren Namen murmelte. Doch kein Weinen, kein hysterisches Schluchzen.
Der Ermittlungsleiter räusperte sich. »Erkennen Sie die Kleider wieder?«
Der Wanderer blieb unbeweglich sitzen, als hätte er die Frage nicht registriert, doch schließlich nickte er.
»Sie gehörten also Ihrer Schwester?«
Wieder dauerte es eine Weile, bis eine Reaktion kam. »An dem Tag, als Linea von zu Hause wegging, hatte sie eine graue Strickjacke und einen rot-grün-karierten Rock an. Und graue Samtschuhe.«
Der Ermittlungsleiter tauschte einen Blick mit Brocks und Lind, die bestätigend nickten. Der Wanderer wusste Bescheid.
»Es wird ein paar Tage dauern, bis Sie ein Grab haben, das Sie besuchen können«, meinte Brocks.
»Ich will Heidi herholen, bevor Sie weitergraben.«
Das würde die Grabungsarbeiten noch weiter verzögern, doch Brocks nickte nur und führte den Wanderer zurück zum Auto.
»Wie paradox, dass am Ende ausgerechnet der Regen sie freigewaschen hat.« Lind folgte dem Auto mit den Blicken. »Nach dem ganzen Gegrabe.«
Eine halbe Stunde später war der Wanderer wieder zurück. Die Männer an der Fundstelle hatten sich in der Zwischenzeit warmgehalten und sahen jetzt zu, wie der Mann, der sich über Jahre hinweg in unerschütterlicher Treue abgeschunden hatte, seiner Schwester die Tür aufmachte und ihr aus dem Auto half. Sie ging mit kleinen Schritten, gestützt von ihrem Bruder, und Niklas konnte erkennen, dass ihr unsicherer Gang nicht nur dem rutschigen Untergrund geschuldet war. Schwankend und in leicht schiefer Körperhaltung kam sie den Abhang herunter, während ihr Bruder sie über den günstigsten Weg führte. Als sie zum letzten, schlammigeren Stück kamen, watete er durch den tiefen Matsch, um sie sicher hindurchgeleiten zu können. Doch selbst da überragte er sie noch um einen Kopf. Wie ihr Bruder trug auch Heidi einen erschöpften Ausdruck zur Schau. Niklas hatte
Lilly Maries Erzählung entnommen, dass sie von Kindesbeinen an kränklich gewesen war, und Lind hatte schon mehrfach auf ihre geistige Zurückgebliebenheit angespielt. Wie zuvor blieb der Wanderer ungefähr zehn Meter vor der Senke stehen. Er legte seiner Schwester den Arm um die Schulter, bevor sie die letzten Meter zur Fundstelle zurücklegten. Dort blieben sie stehen, der große Bruder und die große Schwester, um mit gesenktem Kopf Abschied zu nehmen. Ein stärkeres Bild dieser Tragödie hätte sich Niklas kaum ausdenken können. Er sah, wie der Wanderer mit den Tränen kämpfte, während seine Schwester eher wirkte, als wäre das alles nur noch die traurige Bestätigung einer Tatsache, als hätte sie sich längst mit dem Gedanken ausgesöhnt, das ihre Schwester an einem unbekannten Ort ruhte. Nach ein paar Minuten zogen sie sich zurück, und mit einem kurzen Nicken gab der Wanderer dem Lensmann zu verstehen, dass sie die Grabung fortsetzen konnten.
Niklas blieb stehen und betrachtete das ungleiche Paar, Bruder und Schwester, mit denen das Schicksal so gnadenlos und unbarmherzig umgesprungen war. Die beiden sahen sich nicht besonders ähnlich, abgesehen von ihren markanten Gesichtszügen, die sie älter aussehen ließen, als sie waren.
Sie blieben noch eine Weile stehen und verfolgten die Ausgrabungsarbeiten, dann führte der Wanderer seine Schwester zurück zum Auto. Niklas hatte erst geglaubt, dass er zurückkommen würde, doch als sie nach ein paar Stunden mit der Arbeit fertig waren, war er immer noch nicht wieder aufgetaucht.
»Machen wir Schluss?« Niklas hatte schon ganz vergessen, wie er fror.
»Wir haben alles ausgegraben. Jeden einzelnen Knochen.« Der Ermittlungsleiter war ebenfalls reichlich zerzaust vom kalten Wind.
Als Niklas auf das hinabstarrte, was fünfundzwanzig Jahre lang Lineas Grab gewesen war, kam ihm ein Gedanke. »Wäre es okay, wenn ich noch weitergrabe?«
»Wonach denn?«
Er zuckte mit den Schultern und ließ durchblicken, dass es sich nur um ein vages Gefühl handelte.
»Graben Sie, solange Sie wollen. Wir sind hier fertig.«
Lind blieb neben ihm stehen und beobachtete skeptisch seine ersten Spatenstiche. »Wir brauchen nicht noch mehr Beweise. Du hast doch Konrad gesehen – das ist sie.« Seine Stimme verriet aufkeimende Gereiztheit.
Niklas trieb den Spaten tiefer in die übelriechende blauschwarze Erde, denn er war
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