Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Sack zog sie nach vorn, und sie strampelte wild, um sich von ihm zu befreien und den Kopf über Wasser zu bekommen. Schließlich konnte sie sich losmachen, doch in den paar Sekunden, die sie dieser Kampf gekostet hatte, war sie schon von der Strömung erfasst worden. Sie war gefangen unter der Eisfläche, einer weißen Wand aus Stille. Verzweifelt schlug sie von unten gegen das Eis, doch ihre Hand schien ihr nur wie in Zeitlupe zu gehorchen. Daher lag hinter dem Schlag auch nicht viel Kraft, doch die Strömung hatte das Eis dünn gemacht, und bald konnte sie die Oberfläche wieder durchbrechen. Konrad und Heidi kamen angelaufen, und sie rief ihnen zu, dass sie sich in Sicherheit bringen sollten, doch ihr Sohn legte sich stattdessen auf die Eisfläche und streckte ihr seine dünne Kinderhand entgegen. Sie schaffte es noch, die Arme über die Eisoberfläche zu bringen, aber sie waren taub und kraftlos, und die Strömung riss an ihren Beinen. Heidi starrte sie ungläubig an. Mittlerweile schrie Andrea auch nicht mehr. Konrad hielt sie immer noch krampfhaft fest, aber er presste das Gesicht auf das Eis und traute sich nicht länger hinzusehen. Sie dachte daran, wie sie es nach Hause schaffen sollten, ob Konrad stark genug war, Heidi den ganzen Weg zu ziehen, oder ob sie am Eisloch sitzen bleiben würden, in der Hoffnung, dass ihr Vater sie holen
kam. Edmund wusste, wohin sie hatte gehen wollen. Wenn sie bis Anbruch der Dunkelheit nicht zurück war, musste ihm klar werden, dass irgendetwas nicht stimmte. Heidi stand immer noch wie gelähmt da, und Konrads Finger umklammerten unverdrossen ihre Hand wie dünne Krallen. Andrea beschloss, dass das einfach nicht so enden durfte, sie durfte nicht vor den Augen ihrer Kinder sterben. Also versuchte sie, ihren Oberkörper mit schlängelnden Bewegungen aufs Eis zu hieven, doch ihre Kräfte waren aufgebraucht, und sie hatte schon mehr als genug damit zu tun, überhaupt den Kopf über Wasser zu halten. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie sterben würde, und ihre zwei Kinder die Tragödie miterleben würden. Sie registrierte die Umgebung wie die Kulisse in einem Film, in dem die Schlussszene langsam ausgeblendet wird. Sie sah auch Heidis Gesichtsausdruck nicht mehr, nur noch die rote Steppjacke und das lange blonde Haar, das unter der selbstgestrickten Mütze hervorschaute. Konrad lag auf dem Eis, als wäre er dort eingeschlafen, das Gesicht nach unten und den Arm ausgestreckt. Als sich eine befreiende und schmelzende Wärme in ihrem Körper ausbreitete und alle Sorgen sich auflösten, hörte sie plötzlich eine Stimme. Sie bemerkte, dass Konrad den Kopf hob, dann zogen sie plötzlich starke Hände aus dem Wasser. An alles Weitere erinnerte sie sich nur noch in Bruchstücken: wie man ihr die Kleider vom Leib riss, wie jemand sie auf den Arm nahm und durch die weiße Landschaft trug. Sie glitt davon, aber der Schmerz holte sie zurück ins Bewusstsein, und sie registrierte Hände, die ihr gegen Oberschenkel und Waden klopften, sanfte und freundliche Gesichter, die sich über sie beugten, weiße Laken, ein Gefühl der Geborgenheit, wie sie es fast noch nie erfahren hatte.
Sie starb an einem Mittwochabend und schlief mit einem neutralen Gesichtsausdruck ein. Bloß Konrad, der fast die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen hatte, glaubte sie lächeln zu sehen, nur ganz leicht und mit einem Anflug von Traurigkeit, wie sie immer gelächelt hatte.
Edmund verarbeitete seine Trauer, indem er mehr denn je trank, und irgendwann wurde die Fürsorge informiert. Zu Anfang schickte man eine Haushaltshilfe und eine Familienhelferin, aber schon nach wenigen Wochen war klar, dass Edmund sich um seine Kinder weder kümmern konnte noch wollte, und sie wurden zeitweilig alle auf Pflegestellen untergebracht. Doch das Sorgerecht hatte man Edmund noch nicht genommen, und in seinem Rausch fasste er seinen fatalen Entschluss.
Lilly Marie verbarg das Gesicht in den Händen. Mit tränenerstickter Stimme berichtete sie, wie ihre Mutter ihr vom Krankenhausbett eine Nachricht geschickt hatte, so dass sie Abschied von ihr nehmen konnte. Niklas blieb noch eine Weile sitzen, doch irgendwann sah er ein, dass die Fortsetzung der Geschichte heute nicht mehr zu erwarten war. Er war immer stärker davon überzeugt, dass ihm die Tragödie von Edmund und Andrea Antworten geben würde. So oder so. Mit einem linkischen Schulterklopfen verabschiedete er sich von Lilly Marie. Sie weinte immer noch hemmungslos. Dass sie die
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