Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
weigerte, Heidi neben einem Hurenkind aufwachsen zu lassen. Doch ihr Gewissen machte ihr zeit ihres Lebens zu schaffen, und manchmal stahl sie sich einen Augenblick und kam zu mir. Dann war sie die beste Mutter der Welt, in den wenigen Stunden, die uns zur Verfügung standen.«
»Haben Sie ihr verziehen?« Vor seinem inneren Auge sah er Lineas Totenschädel. Der Schlag war nicht besonders hart gewesen, aber vielleicht hatte ihn doch jemand mit aller Kraft ausgeführt. Eine heißgeliebte Schwester.
»Ich habe meine Mutter geliebt und weiß, dass sie getan hat, was sie konnte, und zwar aus Liebe zu mir. Wir haben uns nicht oft gesehen, aber die Stunden, in denen wir zusammen sein konnten, waren uns heilig.«
»Warum die Puppen? Und warum sind die Opfer so gekleidet, dass sie den Puppen ähneln?«
Diesmal wich sie seinem Blick aus. »Ich weiß nicht. Ich kann nicht glauben, dass es da einen Zusammenhang geben soll.«
Noch immer konnte er es nicht glauben. Das waren einfach alles ein paar Zufälle zu viel. »Dann fangen wir doch mit den Puppen an. Wenn ich das richtig verstanden habe, standen die für eine Art Zusammengehörigkeit zwischen Ihnen und Ihren Halbgeschwistern, und deswegen waren sie wichtig für Sie alle. Aber warum sollte jemand die Puppen auf dem Meer aussetzen, um die bevorstehenden Überfälle auf Ellen Steen und Sara Halvorsen anzukündigen?«
»Ich weiß nicht.« Wieder zog sie so heftig an ihrer Zigarette, als wäre sie ein Inhalator, von dem das liebe Leben abhing.
»Sie wissen es nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie verstehen sicher, dass das für meine Ohren nicht besonders überzeugend klingt.«
Sie stand auf und verschwand in der Küche. Eine halbe Minute später kam sie mit einem Pappkarton zurück, den sie auf den Tisch stellte. »In diesem Karton liegen acht Puppen. Alles meine. Heidi, Konrad und Linea durften sie nie ausleihen, ich bekam immer nur ihre Puppen, und die drei wussten ganz einfach nichts von meiner Existenz. Und nichts auf der Welt hätte mich dazu bringen können, diese Puppen auf dem Meer auszusetzen. Sie sind die einzige Erinnerung, die ich an meine Mutter habe. Sie starb im Winter, wissen Sie. Und danach liefen die Dinge so richtig aus dem Ruder.« Lilly Marie atmete tief durch und erzählte.
Es geschah an einem der kältesten Tage des Jahres, und vielleicht hatte Andrea sich gerade deswegen getraut, über den zugefrorenen kleinen Bergsee zu gehen, in dem Glauben, das Eis müsse meterdick sein. Sie war auf dem Weg zu einem der Nachbardörfer, um dicke Wollsocken und -schuhe zu verkaufen, die sie selbstgestrickt hatte. Es war Samstag und schulfrei, und sie zog Heidi auf einem Schlitten hinter sich her. Konrad setzte sich auch ab und zu auf den Schlitten, wenn das Gehen gar zu beschwerlich wurde, aber er blieb nie lange sitzen, weil er nicht gerne sah, dass seine Mutter sich abmühte.
Edmund hatte die Fischerei komplett aufgegeben, und die Jagd brachte immer weniger Beute. Zu Anfang war er gereizt, zog sich in sich selbst zurück, war weit weg und unzugänglich. Da hatte sie einmal die Andeutung fallen lassen, sie könne doch Strickarbeiten verkaufen, dicke Socken und Hüttenschuhe waren doch immer gefragt bei dieser Kälte, und da kein Protest von ihm kam, machte sie sich ans Werk. Nachdem sie zwei Wochen lang Tag und Nacht gestrickt hatte, zog sie mit einem ganzen Sack voll los.
Der See war nicht groß, eher ein größerer Weiher, und obwohl sie sich ganz sicher war, dass das Eis tragen würde, beschleunigte sie ihre Schritte, als hätte ihr Unterbewusstsein ihr schon eine Warnung eingeflüstert. Und das Eis trug auch. Bis sie nur noch knapp zehn Meter vom Ufer entfernt waren. Andrea wusste nicht, dass genau an dieser Stelle ein Fluss in den See einmündete und dass das Eis hier unter dem alles einebnenden Schnee ausgehöhlt war und nicht dicker als eine harte Brotrinde. Sie hörte einen Knall, gefolgt von einem tiefen Echo, und erstarrte – ein Zögern, das sie das Leben kosten sollte. Denn als ihr klar wurde, dass sie sich mit schnellem Ausweichen retten musste, war es schon zu spät. Das Eis gab unter ihren Beinen nach, und sie brach ein. Was ihr jedoch die schiere Panik durch jede Faser ihres Körpers jagte, war nicht das eisige Wasser, sondern die Schreie von Konrad und Heidi. Sie sah es geradezu vor ihrem inneren Auge, wie ihre Kinder alleine mit Edmund aufwachsen mussten, und sie fand Kräfte in sich, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Der
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