Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
da?«
»Rino Carlson. Ich war bei Ihnen und hab Ihnen ein paar Fragen zu Even Haarstad gestellt.«
»Es hätte gereicht, wenn Sie gesagt hätten, dass Sie bei mir waren. Ich hab das letzte halbe Jahr keinen Besuch mehr gehabt. Warum rufen Sie diesmal an, statt vorbeizukommen? Riecht es hier zu sehr nach altem Mann?«
»Ich habe eigentlich schon alle Antworten von Ihnen bekommen, die ich brauchte. Mir ist da bloß noch mal was eingefallen, was Sie gesagt hatten.«
»Ja, das ist schon so eine Geschichte, über die man länger nachdenken kann. Was ist Ihnen eingefallen?«
»Sie haben gesagt, dass Evens Mutter bei der Entbindung starb und …«
»Das habe ich nicht gesagt. Sie müssen lernen, ein bisschen besser zuzuhören, mein Junge. Ich habe gesagt, dass sie bei der Geburt starb.«
»Ich dachte, das kommt aufs Gleiche raus.«
»Ist es nicht Ihr Job, nicht alles als gegeben hinzunehmen?«
»Das versuche ich eigentlich auch.«
»Na gut. Es war so, dass Evens Mutter zwei Wochen vor seinem Geburtstermin einen Unfall hatte.«
»Was ist passiert?«
»Sie ist vom Rad gestürzt, oder besser gesagt: Sie ist mit dem Rad von der Straße abgekommen und in einen Graben gefahren, und dabei hat sie sich den Kopf an einem Felsen aufgeschlagen. Sie wurde von einem vorbeikommenden Autofahrer gefunden und ins Krankenhaus gebracht, wo sie noch am selben Abend starb. Even konnte allerdings gerettet werden.«
Eine sonderbare Geschichte. So sonderbar wie fast alles im Fall Even Haarstad. »Sie sagen, sie ist mit dem Rad gefahren. Zwei Wochen bevor sie entbinden sollte. Ist das nicht ein bisschen gewagt?«
»Gute Frage.« Der Alte bekam einen Hustenanfall. »Das dachten sich hier wohl die meisten. Diejenigen, die besonders schnell mit ihrem Urteil bei der Hand waren, fanden sogar, dass es ihr recht geschah – sich einfach aufs Fahrrad zu setzen, ein paar Tage vor der Entbindung. Aber sie hat es nun mal gemacht. Man könnte fast glauben, dass Evens brutales Schicksal schon vorgezeichnet war, bevor er zur Welt kam. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Fahrradausflug ihn seine Kindheit gekostet hat.«
»Gut. Dann möchte ich Sie jetzt nicht länger stören.«
»Ich weiß, was Sie denken, junger Mann, und die Götter wissen, dass ich und viele andere dasselbe dachten. Und auf Umwegen ist mir auch zu Ohren gekommen, dass der Arzt, der Even auf die Welt holte, hinterher einen Kommentar dazu abgab. Sie wissen schon … dass ihm der Unfallhergang schon sehr seltsam vorkam. Darüber wurde dann aber nicht mehr gesprochen, und vielleicht war das auch gut so.«
»Der Arzt …«
»Hab ich’s mir nicht gedacht.« Das gurgelnde Lachen klang gekünstelt. »Er ist längst pensioniert. Torkil Bruun heißt er, wohnt auch in Bergland. Von wo rufen Sie überhaupt an?«
»Auf dem Schild meiner Herberge steht FISCHERHEIM .«
»Dann können Sie sein Haus sogar von Ihrem Fenster aus sehen. Wenn Ihr Zimmer auf der Südseite liegt, wohlgemerkt.«
Es war schon kurz vor zehn, als Rino an der Tür klingelte. Keine Reaktion. Er widerstand der Versuchung, es gleich ein zweites Mal zu versuchen, blieb stattdessen aber geduldig stehen und wartete, bis die Tür schließlich aufging. Torkil Bruun sah gut aus für sein Alter, aber es sah auch so aus, als würde er etwas dafür tun. Sein Gesicht war sonnengebräunt und frisch, seine Haare auf ein gut aussehendes Minimum gestutzt. Die Hose mit der messerscharfen Bügelfalte wurde von breiten Hosenträgern gehalten, und das frisch gebügelte weiße Hemd zeugte von Stil und wirkte kein bisschen altmodisch.
»Womit kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme war weder entgegenkommend noch abweisend.
Rino stellte sich vor und entschuldigte sich, dass er um diese Tageszeit noch störte. Dann gab er eine Kurzversion des Anliegens, das ihn hergeführt hatte.
»Sie sind also Polizist?« Ein strenger Blick musterte ihn skeptisch.
Rino versuchte es mit einem entwaffnenden Lächeln und griff in die Jackentasche.
»Schon gut. Wer würde schon von sich behaupten, so einen Beruf auszuüben, wenn es nicht stimmen würde?«
Rino zog die Holzclogs aus, bevor er eintrat, und eigentlich hätte er Jacke und Hose auch gleich mit ausziehen müssen, denn Torkil Bruuns Haus zeigte deutlich, dass sein Besitzer Geld hatte.
Er wurde in ein überraschend kleines Wohnzimmer geführt, in dem ein Feuer munter im Kamin prasselte. Wahrscheinlich gab es noch ein zweites, größeres Wohnzimmer, das feineren Anlässen vorbehalten
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