Der Makedonier
sich in mehr oder weniger offenem Aufruhr gegen den König in Pella, aber immerhin war er Makedonier. Wenigstens lag sein Schicksal nun nicht mehr in der Hand von Fremden.
Er schlug in einer Ebene sein Lager auf und wagte es zum erstenmal seit dem Abschied von Bardylis, ein Feuer anzuzünden. Er wußte zwar, daß er nicht sicherer war, nur weil er eine Grenze überquert hatte, aber seit zwei Tagen hatte er keine Anzeichen für eine Verfolgung mehr entdecken können. Diese Bergwildnis schien er ganz für sich allein zu haben.
Trotzdem schlief er mit blankem Schwert.
Am nächsten Tag erreichte er eine bewaldete Hochebene, die nur noch eine Stunde von König Menelaos’ Festung in Pisoderi entfernt war. Der Weg führte zuerst über eine liebliche, sonnige Wiese, doch schon bald umschlossen Bäume den Reiter wie ein Mantel. Eine Stunde nach Mittag hörte Philipp in der Entfernung Jagdhörner.
Zuerst spürte Alastor die Gefahr. Mit einem leisen, nervösen Wiehern blieb der Hengst mitten auf der schmalen Lichtung stehen. Philipp beugte sich vor und tätschelte ihm den Hals.
»Was hast du denn in deinen Nüstern, du schwarzerDämon?« flüsterte er. »Was würdest du mir sagen, wenn du eine Menschenstimme hättest?«
Doch alles blieb still in diesem Augenblick gespannter Erwartung.
Und plötzlich hörte er es. Er wußte schon, was es war, j als es noch, verborgen hinter den Bäumen, in panischer Flucht durchs Unterholz jagte. Er zog sein Schwert, schwang das Bein über Alastors Rücken und ließ sich zu ; Boden gleiten.
Als es schließlich aus dem Wald brach, staunte er über seine Größe: ein riesiger Eber, etwa zwei Ellen bis zur Schulter, und stark wie zwei Männer. Seine Stoßzähne glänzten weiß, und seine furchterregenden kleinen Augen funkelten vor Wut. Als er Philipp sah, blieb er jäh stehen, scharrte mit den Hufen und senkte den Kopf zum Angriff.
Philipp hielt sein Schwert stoßbereit, mit der Spitze leicht nach unten geneigt, denn er wußte, daß er nur einen einzigen Versuch haben würde. Auge in Auge mit diesem mörderischen Untier empfand er eine seltsame Hochstimmung.
»Komm zu mir, mein Hübscher«, flüsterte er in einem Singsang, wie man ihn für kleine Kinder benutzt. »Komm zu mir, damit wir wissen, wer von uns die nächste Minute überlebt.«
Wie als Antwort auf diese Herausforderung schnaubte der Eber wütend und rannte los. Philipp blieb standhaft, er versuchte nicht zu denken und hielt das Schwert mit beiden Händen so, daß dessen Spitze genau auf einen Punkt zwischen den Schulterblättern des Ebers zielte, als würde nur dieser Punkt auf ihn zustürmen und nicht fünf oder sechs Talente Muskeln und Knochen, mit Stoßzähnen, die so lang waren wie Dolche.
Der Aufprall war enorm. Philipp spürte den Atem aus seinen Lungen weichen, während er durch die Luft gewirbelt wurde wie eine Staubflocke, die sich jemand vonder Kleidung wischt. Er wußte nicht, ob sein Schwert den Eber getroffen hatte – er wußte überhaupt nichts. Er spürte nicht einmal, wie er auf dem Boden aufschlug.
Er mußte bewußtlos gewesen sein, zumindest einige Augenblicke lang. Als er die Augen öffnete, wunderte er sich beinahe, daß er noch am Leben war. Der tote Eber lag neben seinen Füßen, und Philipps Schwert steckte bis zum Heft genau zwischen den Schulterblättern.
Philipp fühlte sich augenblicklich besser – wenigstens hatte er nicht noch im letzten Moment die Nerven verloren. Das machte sogar beinahe die Wunde in seinem Oberschenkel wieder wett, einen gut fingerlangen und fast ebenso breiten Riß, den das Untier ihm mit einem Stoßzahn zugefügt hatte.
Kaum war er sich der Wunde bewußt geworden, durchzuckte ihn der Schmerz vom Knie bis zur Leiste. Zuerst nahm es ihm den Atem, doch dann schwächte sich der Schmerz zu einem brennenden Ziehen ab. Die Wunde blutete, aber nicht sehr. Lebensbedrohlich schien sie nicht zu sein.
Dann bewegte er das Bein, und der Schmerz kehrte zurück, so heftig, daß ihm schwindlig wurde. Sein Pferd stand ruhig grasend etwa zwölf oder vierzehn Schritt entfernt – die Entfernung kam ihm vor wie ein unüberbrückbarer Abgrund.
»Alastor, komm her!«
Der Hengst hob den Kopf und sah ihn an, als wollte er sagen: »Was willst denn du?« Trotzdem trottete er herbei und stellte sich neben seinen Herrn.
Nur das gesunde Bein belastend, hockte sich Philipp auf. Dann streckte er den Arm aus, und es gelang ihm mit knapper Not, eine Handvoll von Alastors Mähne zu packen. Unter
Weitere Kostenlose Bücher