Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
zu haben, Meister da Vinci.«
Leonardo fühlte sich plötzlich einer Ohnmacht nahe und schloss für einige Sekunden die Augen, bis sich der Anfall legte. »Schon wieder ein Verräter«, konstatierte er tonlos.
»Jemand, der seine Pflichten als Christenmensch ernst nimmt, meinen Sie. Niemand darf sich ungestraft derart gegen Gott versündigen und dazu noch gotteslästerliche Schriften verbreiten, Meister da Vinci.«
Verdutzt fragte Zoroastro: »Gotteslästerliche Schriften?«
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Meister Zoroastro, Assistent von…«
»Aha, Ihr Name ist uns bekannt.« Bracchione blätterte in seinen Papieren. »Das heißt, Ihr Verhältnis zu Meister da Vinci ist uns bekannt.« Er legte einen unüberhörbaren Vorwurf in das Wort »Verhältnis«.
Leonardo erklärte: »Ich habe einige meiner anatomischen Zeichnungen mit den dazugehörigen Erläuterungen an die Universität und einige mir bekannte Mediziner geschickt. Damit wollte ich lediglich einen Beitrag zum Fortschritt der medizinischen Wissenschaft leisten.«
»Unter übertriebener Bescheidenheit leiden Sie offenbar nicht«, stellte der Offizial fest.
Leonardo schnaubte. »Diese lästige Eigenschaft habe ich abgelegt, als mir aufging, dass unsere Welt in erster Linie von Leuten bevölkert wird, denen das Denken derart weh zu tun scheint, dass sie es lieber vermeiden, Monsignore.«
»Mir erscheint es wünschenswert, das Denken Personen zu überlassen, die dafür geschult sind.«
»Hm, man kann sogar einen wilden Bären schulen, ein Publikum zu unterhalten, aber deswegen ist er noch nicht zu vernünftigen Schlussfolgerungen imstande, Monsignore.«
Zu seiner Überraschung war der Offizial nicht erzürnt, sondern schmunzelte wahrhaftig. »Eine ausführlichere Diskussion schiene mir durchaus lohnend«, befand er.
»Ich fühle mich sehr geehrt, gebe aber zu bedenken, dass Sie mich höchstens bis zum Abend einsperren können.«
Der Offizial zog eine Augenbraue hoch. »Wer sagt, dass ich das heute schon vorhabe? Der Bischof möchte Ihnen vorerst nur eine ernste Warnung übermitteln lassen, was Ihr in mehr als nur einer Hinsicht unehrerbietiges, ja gotteslästerliches Verhalten betrifft.« Sein Blick glitt wieder kurz zu Zoroastro, der mit sorgenvoller Miene dastand. »Beim nächsten Mal wird es allerdings nicht dabei bleiben. Es gibt höhere Mächte als einen Ludovico Sforza, Meister da Vinci, das sollten Sie nicht vergessen.«
Bracchione wandte sich zum Gehen und gab seinen beiden Begleitern ein kaum merkliches Zeichen, worauf diese mit perfekt synchronen Bewegungen kehrtmachten und zum Ausgang marschierten.
Bevor er ihnen folgte, schaute Bracchione sich noch kurz um. »Ich hoffe, Ihr Vermögen ist durch diesen Beutelschneider auf dem Markt nicht zu sehr geschrumpft?«
Leonardo war so überrascht, dass er einen Moment lang nicht wusste, was er antworten sollte. »Woher wissen Sie…?«
»Gott hört und sieht alles, Meister da Vinci. Und das gilt auch für seine irdischen Stellvertreter.«
Damit verließ der Gesandte des Bischofs den Raum. Kurz darauf war Hufgetrappel zu hören und ein Wagen, der sich vom Innenhof entfernte.
»Wer war denn das?«, fragte Salaì, der sich unbemerkt genähert hatte. »Der sah ja aus wie ein Hofnarr.«
Salaì trug einen grünen Rock, den Leonardo ihm hatte machen lassen, und sah darin selbst ein bisschen wie ein Hofnarr aus. Nur die Narrenkappe fehlte.
»Ich bitte dich eindringlich, bleib von hier fern, wenn dieser Mann noch einmal auftauchen sollte«, ermahnte Leonardo ihn. »Und versuch dieses eine Mal zu gehorchen, es ist wichtig.«
»Jawohl, Meister, aber gewiss, Meister.« Salaì verbeugte sich gespielt untertänig und ging mit übertriebenem Hüftschwung in seinen enganliegenden Beinkleidern davon.
Leonardo schaute ihm einen Moment nachdenklich hinterher und sagte dann zu Zoroastro: »Ich bin in meinem Arbeitszimmer, falls du mich brauchst.«
Als er allein war, trat er vor den kleinen Spiegel, der an einer Wand seines Arbeitszimmers hing. Kritisch studierte er sein Gesicht. Ich sehe aus wie ein alter Mann, stellte er unerbittlich fest. Er war stark gealtert, und das lag nicht nur an dem langen Bart, den er sich seit einigen Jahren stehen ließ. Sein Haar war zwar immer noch voll, nicht anders als in seinen jungen Jahren, aber die ungebändigte Frisur hatte längst nicht mehr den jungenhaften Charme von früher. Er neigte inzwischen zu Tränensäcken unter den Augen, und seine Stirn wies
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