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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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hin und wieder pausierte, um Anmerkungen oder Skizzen in seinem Notizbuch festzuhalten, das sein ständiger Begleiter war. Unter anderem zeichnete er ein dramatisches Panorama vom Lago di Lecco, als dort ein Wolkenbruch niederging. Leonardo blickte aus der Höhe darauf hinab und wähnte sich, zumal von seinem Standort aus keine Spur von menschlichem Leben auszumachen war, für einen Augenblick ganz allein auf der Welt. Wie in längst vergangener Zeit, dachte er. Bevor Gott auf die unselige Idee kam, ein boshaftes, aggressives Wesen zu schaffen, das auf seinen Hinterbeinen läuft, um auf alles andere Leben herabsehen zu können, und damit die Ruhe und die Harmonie auf Erden ein für alle Mal zerstörte…
    Und dann der Monte Mandello. »Gigantische nackte Felsen, wie ich sie noch nirgendwo sah«, notierte er. »Mit einer Schlucht zur Seeseite, die gut zweihundert Stufen tief ist. Hier wird das Gesicht von einem eiskalten Wind gegeißelt, der von dem sogenannten ›ewigen‹ Schnee herrührt.«
    Manchmal musste er sein Pferd für eine Weile zurücklassen und zu Fuß weiterklettern, um die Orte zu erreichen, die ihm interessant erschienen oder von denen man ihm in den Gasthäusern, in denen er nächtigte, erzählt hatte. »Gute Gasthäuser«, notierte er. »Wo man für wenig Geld ausgezeichnet speisen kann . « Vor allem der preiswerte Wein aus dem Veltlin mundete ihm sehr, so sehr sogar, dass er zur Nacht oft Mühe hatte, das ihm zugewiesene Zimmer wiederzufinden.
    Er stieg auch ein paarmal bei gastfreundlichen Bergbewohnern ab, die ihm gegen eine kleine Zeichnung von ihrem Haus oder von irgendetwas Charakteristischem in ihrer Umgebung eine Schlafstelle im Stall gaben. Geld wollten sie nicht. Diese Menschen führten, wie er beobachten konnte, ein einfaches, aber zufriedenes Leben in einer fruchtbaren Alpenregion, die jeden, der die Arbeit nicht scheute, gut ernährte.
    Mehr als alles andere faszinierten Leonardo die Naturphänomene in dieser Region. So zum Beispiel eine Heilquelle, die alle sechs Stunden stieg und fiel. Oder das Flüsschen Trosa, das von hohen Felsen in die Tiefe stürzte und dann im Erdboden verschwand.
    Sogar Bären sah er, wobei ihm keiner so nahe kam, dass er Angst hätte haben müssen. Die Bauern versuchten sie mit raffinierten Fallen zu fangen, weil sie an ihrem Fell interessiert waren oder sie an Tierbändiger verkaufen wollten, die ihnen Kunststücke beibrachten und sie dann auf Märkten und anderen Bühnen auftreten ließen.
    Beeindruckend natürlich auch die Bergrücken mit ihren nach Westen meist nackten, schroffen Flanken, während die Hänge nach Osten hin oft grün waren, bedeckt mit saftigen Wiesen oder dichten Wäldern. Und der Grigna wartete auf seiner Nordostseite mit einem eindrucksvollen Gletschertal auf.
    Leonardo versuchte mehrmals, einen der zugänglich erscheinenden Berghänge zu besteigen, um zum ewigen Schnee hinaufzugelangen, doch dabei wurde er einmal mehr mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, dass er kein junger Mann mehr war. Er war schnell außer Atem, und nach nicht einmal einem Viertel der Strecke schlug sein Herz schon so beängstigend schnell, dass er sich hinsetzen oder sogar hinlegen und ausruhen musste, bevor er wohl oder übel wieder hinunterstolpern konnte.
    Als er einmal auf dem Rücken lag und zu den Wolken emporschaute, die am Himmel dahinjagten, befiel ihn eine eigenartige Stimmung. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass die überwältigend schöne Natur, mit der er Tag für Tag so eindringlich konfrontiert war, manchmal auch etwas sehr Gewaltsames haben konnte, als wäre die Welt nicht irgendein willkürliches Sammelsurium aus Erde, Wasser, Luft und den darauf lebenden Pflanzen und Tieren, sondern ein riesengroßer, unvorstellbar mächtiger Organismus mit einem eigenen Willen und einem eigenen Ziel. Der Mensch spielte darin nur eine untergeordnete Rolle und war nichts als ein kleines Rädchen im Getriebe, das womöglich nicht einmal fehlen würde, wenn es nicht mehr da wäre. Der Einzelne war nichts als ein Blatt an einem Baum, grün und frisch im Frühling, verdorrt im Herbst, bis es mit dem Wind fortwehte, um mit Tausenden anderen in Nahrung für neues Leben zersetzt zu werden.
    Dieser Gedanke war zugleich entmutigend und tröstlich. Die eigene Nichtigkeit zu erkennen tat weh, doch diese Erkenntnis befreite auch von jeglicher Verantwortung.
    Leonardo verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das Gras unter seinem Rücken fühlte sich kalt an, aber

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