Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Meisters aus Florenz erkannte.
»Du trägst die Farben mit feinstem Pinselstrich auf, so dass die Umrisse gleichsam ineinanderzufließen scheinen. Wie in Rauch verwandelt sieht das dann aus«, erklärte Leonardo im Plauderton, während er malte. »Das macht den Hintergrund weich und vergrößert die Tiefenwirkung des Bildes. Ein subtileres Mittel als die perspektivische Verkleinerung.«
D’Oggiono hatte natürlich längst Bekanntschaft mit Leonardos Technik des sfumato gemacht, aber er hörte ihm dennoch mit großem Interesse zu, denn kein anderer beherrschte sie so exzellent wie ihr Erfinder. Und Leonardo verstand es, einem Gemälde gerade das kleine bisschen mehr zu geben, das den Blick des Betrachters in Bann zog und ihm die Augen übergehen ließ. In Leonardos Hand wurde der Pinsel zum Zauberstab, der die auf der Tafel erzählte Geschichte lebendig werden ließ.
»Perfektion gibt es nicht«, sagte Leonardo, während er d’Oggiono sein Malwerkzeug zurückgab. »Aber du bist ein wahrer Künstler, Marco. Es ist gut, dich in meinem Atelier zu haben.«
Er setzte seinen Rundgang fort, bis er bei Salaì angelangt war, der gerade mit wilden Strichen seines Kohlestifts eine Teufelsfratze skizzierte.
»Musst du denn immerzu Selbstporträts zeichnen!«, frotzelte Leonardo.
»Wen ich hier darstelle, weiß nur ich, das bleibt für alle geheim«, entgegnete Salaì schlagfertig wie immer. »Aber ich möchte festhalten, dass meine Zeichnungen weit besser wären, wenn ich einen Silberstift benutzen dürfte.«
»Schüler müssen üben, bis ihre Technik so ausgefeilt ist, dass man nicht umsonst teure Silberstifte an sie vergeudet.« Leonardo blickte auf den Flaum im Nacken des Jungen. »Wie ärgerlich für dich, dass du das Werkzeug, das du gestohlen hast, nicht benutzen kannst, ohne dich zu verraten. Und merke dir, Zoroastro ist über deine Gaunereien im Bilde, also versuch gar nicht erst, meine Abwesenheit auszunutzen, um dein Unwesen zu treiben.«
Salaì hörte auf zu zeichnen und sah Leonardo an. »Deine Abwesenheit? Gehst du denn weg?«
»Ich gehe auf Reisen, aber nicht lange, du wirst nicht einmal genügend Zeit haben, über deinen Kummer hinwegzukommen.«
»Und Zoroastro bleibt hier? Darf ich dich dann begleiten?«
Leonardo schob die Lippen vor. »Hättest du dich gern zum Reisebegleiter?«
»Einen so hübschen Burschen würde ich bestimmt nicht zurückweisen.«
»Du hast zu viel von dem, was mir in deinem Alter fehlte.«
Salaì runzelte argwöhnisch die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Anmaßung. Doch was ist ein schönes Kunstwerk wert, das auf eine vom Holzwurm befallene Tafel gemalt ist?«
»Jetzt kann ich dir überhaupt nicht mehr folgen.«
Leonardo nickte. »Zum Glück. Schönheit ist an sich schon eine gefährliche Eigenschaft, aber wenn sie mit Verstand gepaart ist, wird sie tödlich.«
»Bekomme ich einen Silberstift?«
»Nein, du hast dir schon zu viele unter den Nagel gerissen.«
Leonardo sah sich die Teufelsfratze, an der Salaì arbeitete, jetzt mit größerer Aufmerksamkeit an. Gut gemacht, befand er zufrieden. Boshaft und furchteinflößend, wie es sich gehörte. Die konnte beim Theater oder bei einem Umzug Verwendung finden. Vielleicht wurde es langsam Zeit, dem Knaben die Grundlagen der Malerei beizubringen.
»Wir reden weiter, wenn ich wieder zurück bin«, sagte er.
»Bringst du mir ein Geschenk mit?«
Leonardo seufzte. Er wusste, dass er wieder schwach werden und viel Zeit darauf verwenden würde, etwas zu finden, womit er Salaì eine Freude machen konnte. Es war manchmal schon beängstigend, wie ihn der Junge um den Finger wickelte.
Mit mildem Spott fragte er: »Eine Kuhglocke vielleicht, die man dir um den Hals hängen kann, damit jederzeit zu hören ist, wo du dich herumtreibst?«
Salaì zog eine Grimasse und zeichnete weiter.
Leonardo blieb noch kurz stehen und schaute ihm auf den Rücken, hin- und hergerissen zwischen Ärger und zärtlicher Gerührtheit. Der Ärger verflog wie immer rasch. Ihm war ohnehin seit langem klar, dass er der Schwächere von ihnen beiden war.
Schweigend wandte er sich ab, um für die Reise zu packen.
Leonardo ritt auf der Carraia del Ferro, so genannt, weil auf dieser Route das Eisenerz aus dem Valsassina transportiert wurde, nach Lecco am südöstlichen Arm des Comer Sees.
Nachdem er sich dort von den Strapazen der Reise erholt hatte, machte er sich in aller Ruhe an seinen Streifzug durch die südlichen Ausläufer der Grigna-Gruppe, wobei er
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