Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Ruf, Diebe und Messerstecher zu sein, stellte einen gewissen Kitzel für ihn dar. Er schwankte zwischen leichter Beunruhigung und Faszination, wie man sie auch gegenüber einem Raubtier empfindet. Und das regte seine Phantasie an.
Eine junge Zigeunerin stand direkt neben ihm. Nicht ganz zufällig, denn Leonardo hatte sich ihr möglichst unauffällig genähert. Sie bemerkte ihn und lächelte ihn kurz an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Theaterstück zuwandte. Sie hatte erstaunlich gute Zähne, die sich gegen ihre dunkle Haut besonders weiß abhoben, und große rehbraune Augen. Ihr pechschwarzes glänzendes Haar war nicht unter einer Haube oder einem Kopftuch versteckt, sondern fiel offen über ihre nur halb bedeckten Schultern. Sie hatte keinen Korb bei sich, so dass sie wohl nicht zum Einkaufen hier war.
Leonardo hätte sich gerne mit ihr unterhalten, doch er wusste nicht recht, wie er das anfangen sollte. Zumal er sich nicht sicher war, ob sie überhaupt Italienisch sprach. Und als er endlich doch einen für sein Gefühl geeigneten Eröffnungssatz gefunden hatte, war die Frau verschwunden. Lautlos und unbemerkt wie ein Geist.
Ein wenig enttäuscht ging auch Leonardo, bevor die Vorstellung beendet war.
Er machte an einem Stand halt, um Zucker und Salz zu kaufen, doch als er bezahlen wollte, war sein Beutel fort. Irgendwer hatte ihn von der Lederschnur abgetrennt, mit der er am Gürtel befestigt gewesen war.
»Verflixte Diebin!«, murmelte Leonardo, der sich vor allem über seine eigene Arglosigkeit ärgerte.
Der Markthändler, der ihn kannte, sah ihn mitleidig an. »In der Nähe von Zigeunern gewesen, Meister da Vinci?« Und als Leonardo grimmig nickte: »Ja, ja, auch der Handel leidet unter ihren Schurkenstreichen. Sie sind so flink und behende, dass sie dir deine Männlichkeit abschneiden könnten, ohne dass du es merkst. Ich frage mich, warum man diese Bande nicht gleich aus der Stadt wirft! Oder ihnen die gierigen Pfoten abhackt!« Der Mann war sichtlich aufgebracht. »Hühner, Schweine, Pferde, nichts ist mehr sicher, seit diese fremden Gesellen hier sind. Nicht mal ihren Kindern kann man trauen. Lässt du ein Fenster auch nur einen Spaltbreit offen stehen, zwängen sie sich hinein und räumen dir das Haus aus.«
»Ach, all diese Märchen…«
Der Markthändler deutete auf Leonardos Gürtel. »Märchen?«
»Tja, Sie haben wohl doch nicht so ganz unrecht…« Leonardo blickte unentschlossen auf die beiden Töpfchen, die der Händler für ihn mit Zucker und Salz gefüllt hatte. »Ich werde wohl erst nach Hause gehen und Geld holen müssen.«
Der Händler schüttelte den Kopf. »Das bekomme ich dann schon beim nächsten Mal, Meister da Vinci. Sie werden sich schon nicht aus dem Staube machen wie diese Diebe.«
Leonardo bedankte sich und kehrte mit seinen Einkäufen zur Corte Vecchia zurück, begleitet von dem Ärger darüber, dass er sich von einem Lächeln hatte trügen lassen.
»Schönheit ruft bei anderen manchmal eine fatale Unachtsamkeit hervor«, bemerkte Zoroastro nicht ohne Häme, nachdem Leonardo ihm die Geschichte erzählt hatte. »Sag mal, denkst du auch noch hin und wieder an Sforzas Pferd?«
»Du hast ja keine Ahnung, an was ich alles denke«, erwiderte Leonardo.
Aber Zoroastro hörte gar nicht zu, denn er schaute mit gefurchter Stirn über Leonardos Schulter. Unbemerkt war ein kleiner, gedrungener Mann in purpurnem Rock eingetreten, der von zwei mit Hellebarden bewaffneten Männern begleitet wurde.
»Wer sind Sie, und wie sind Sie hier hereingekommen, wenn ich fragen darf?«
»Ich hatte eine freundlichere Begrüßung erwartet«, sagte der Mann. »Bracchione, Offizial des Bischofs, betraut mit der Gerichtsbarkeit innerhalb der Diözese. Die Tür stand offen, was mich angesichts der Kostbarkeit der Kunstwerke, die hier gefertigt werden, ein wenig verwunderte, wie ich gestehen muss. Aber das entspricht wohl der Freizügigkeit, mit der hier verfahren wird, nicht zuletzt im Hinblick auf die Maßgaben der Kirche.« Der Offizial sah Leonardo forschend an. »Nur der guten Ordnung halber: Sind Sie Meister Leonardo da Vinci?«
»Seit ziemlich genau vierzig Jahren, Monsignore Bracchione, falls das die richtige Anrede ist.«
Der Offizial ignorierte Leonardos provokanten Ton. Er schlug die Mappe auf, die er unter dem Arm getragen hatte, und nahm ein auf Pergament verfasstes Schreiben hervor. »Sie werden offiziell beschuldigt, verbotene Handlungen an menschlichen Überresten ausgeführt
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