Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
sein Malwerkzeug beiseite und stieg vom Gerüst hinunter.
»Ich möchte mir Ihr Gesicht einmal genauer ansehen.«
Michelangelo seufzte. »Ihr unsittlicher Ruf ist mir nicht unbekannt, Meister. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich…«
»Ich benötige noch ein Modell für den Jesus. Könnten Sie sich bitte einmal kurz ins Licht drehen?«
»Wollen Sie mir etwa schmeicheln?«
Leonardo studierte Michelangelos Züge mit halb zugekniffenen Augen. »Hm, nicht ganz das, was mir vorschwebte, aber es lässt sich etwas damit anfangen.«
»Als wenn ich meine Zeit mit Modellstehen vertun würde!«
»Zu spät«, Leonardo grinste. »Ich brauche Sie nicht weiter, Meister. Ihre Züge sind jetzt in mein Gedächtnis eingegraben, bis ich keine Verwendung mehr für sie habe.«
Michelangelo schaute noch einmal sinnierend zu dem meisterhaften Wandgemälde hinauf, das mittlerweile in großen Teilen vollendet war. »Vielleicht kein schlechter Platz für mich, umgeben von mich anbetenden Jüngern…«
»Soweit ich weiß, war Jesus weitaus bescheidener.«
Michelangelo nickte. »Und wir alle wissen, wohin ihn das gebracht hat.« Er schlug den Kragen hoch, denn draußen war es winterlich kalt. »Ich reise demnächst nach Rom. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns dort bei Gelegenheit wieder.«
»Ich habe nicht vor, nach Rom zu gehen.«
»Jeder geht früher oder später nach Rom. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute, Meister da Vinci.«
Mit einer Mischung aus Erstaunen und Irritation musste Leonardo sich eingestehen, dass er den anderen nur ungern ziehen ließ. Es wäre ihm lieb gewesen, Michelangelo etwas besser kennenzulernen, denn er vermutete hinter dessen anmaßender Haltung wahrhaftig einen raren Geistesverwandten.
Rastlos wanderte Leonardo auf und ab.
Il Moro hatte sich an ihre Abmachung gehalten und ihm das Haus mit dem Weinberg übereignet, als er das Abendmahl-Fresko wie durch ein Wunder noch gerade so im vereinbarten Zeitraum fertigbekommen hatte. Doch nun stellte sich ein Problem, das er seinerzeit außer Acht gelassen hatte. Er besaß jetzt zwar Haus und Garten, hatte aber darüber hinaus keine Bezahlung mehr vom Herzog zu erwarten, der sich nach eigenem Ermessen schon mehr als großzügig gezeigt hatte. So sah sich Leonardo denn aus finanziellen Gründen gezwungen, seine Leute auch allerlei Aufträge ausführen zu lassen, die nur wenig mit Kunst zu tun hatten. Fassadenarbeiten an den Palazzi wohlhabender Bürger zum Beispiel oder die Pflege von deren Gärten.
Leonardo selbst hatte sich wieder verstärkt seinen Aufzeichnungen gewidmet. Er verfügte inzwischen über etliche Mappen mit Hunderten von Seiten voller »Beobachtungen« mit und ohne Illustrationen. Das waren Gedanken, Wahrnehmungen, plötzliche Eingebungen, interessante Äußerungen anderer, Reflexionen über Konkretes und Abstraktes, Erfindungen oder Ansätze dazu, Reime, Geschichten, Humoriges und was nicht noch alles. Leonardo hatte sich Notizen zu den verrücktesten Dingen gemacht.
Seine technischen Skizzen und Beschreibungen reichten schon aus, um ein dickes Buch zu füllen: gänzlich neuartige Wind- und Wassermühlen, ein Spinnrad mit automatischer Garnaufwicklung, Riemen- und Kettenantriebe, diverse Arten von Lagern, Gewinden und Zahnrädern, eine reibungsarme Metalllegierung, ein revolutionärer Kranhaken, der sich selbsttätig öffnete, wenn die Last abgesetzt wurde, Maschinen für die Textilverarbeitung, Hebevorrichtungen für besonders schwere Lasten, ja sogar ein automatischer Mensch, der sich mittels allerlei Vorrichtungen tatsächlich bewegen konnte. Überdies arbeitete er an Illustrationen geometrischer Figuren für ein Buch des Mathematikers Fra Luca Pacioli.
Doch im Moment konnte sich Leonardo auf nichts konzentrieren. Seit Tagen machte ihm eine zunehmende Unruhe zu schaffen, die sich einfach nicht zerstreuen ließ. Er hatte wieder einmal das Gefühl, dass etwas geschehen würde, sich etwas über ihm zusammenbraute. Ein Instinkt, den er ernst zu nehmen gelernt hatte.
Leonardo schaute zu einem Milan auf, der hoch über seinem Garten langsame Kreise beschrieb. Als wollte er mich provozieren, dachte er. Er macht sich lustig über uns Schwächlinge hier unten, die sich nicht vom Boden erheben können. Vielleicht war es aber auch ein Anstoß. Gib dir mal ein bisschen mehr Mühe, denk nach, streng dein Hirn an, und du wirst höher und weiter fliegen können als jeder Vogel!
»Ich verfluche meine Dummheit!«, schimpfte Leonardo laut.
Weitere Kostenlose Bücher