Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Tisch. »Soweit ich weiß, sind Sie auch ein Mann der Wissenschaft, nicht wahr?«
»Die Malerei ist nur eines meiner Interessengebiete, und seit geraumer Zeit nicht mehr das wichtigste.« Leonardo wurde sich erst jetzt, während er es aussprach, verwundert bewusst, wie sehr das zutraf. Er hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, aber es war tatsächlich so, dass er Pinsel und Farbe bisweilen leid war. Wissenschaft und Technik beschäftigten ihn indes weit mehr. Wer wissenschaftlich arbeitete, arbeitete an der Zukunft. Malen dagegen…
Machiavelli wartete geduldig ab, ob er noch etwas ergänzen würde.
»Und was ist Ihr größtes Interesse?«
»Die Politik«, antwortete Machiavelli kurz.
»Hm, das ist nun just eines der Wissensgebiete, die mich weniger interessieren.«
»Politik ist eine Wissenschaft, die großen Einfluss auf unser tägliches Leben hat, Meister da Vinci. Ob sie uns nun interessiert oder nicht.«
»Die Medizin gewiss noch viel mehr, und doch gibt es nur wenige Ärzte. Von guten Ärzten ganz zu schweigen.«
»Es liegt mir fern, jedermann davon zu überzeugen, wie wichtig das ist, womit ich mich befasse. Und es geht mir auch beileibe nicht darum, allgemeingültige Theorien und Formeln für die Politik zu entwickeln. Ich mache mir nur einige ganz persönliche Gedanken über die politischen Gegebenheiten und ihren geschichtlichen Verlauf, über die Rolle des Volkes und über die Rolle seiner Führer, die leider oft eine verhängnisvolle ist. Insbesondere die von religiösen Führern.« Als Machiavelli merkte, dass Leonardo bei Letzterem aufhorchte, beugte er sich zu ihm hinüber und sagte etwas leiser: »Ich vermute, Sie als Künstler sind eher kein frommer Christ, oder?«
»Sagen wir, ich lasse es jedem frei, wie er es mit dem Glauben hält.«
»Eine vorsichtige Antwort, das ist klug. Ich persönlich glaube an nichts, was nicht greifbar ist. Und es steht fest, dass der Glaube in unserer Welt schon viel Leid verursacht hat.«
»Und das sagen Sie laut?«
»Aber vorsichtig ausgedrückt. Auf jeden Fall bin ich überzeugt, dass die katholische Kirche an der wild um sich greifenden Korruption in unserem Land schuld ist. Auch der moralische Verfall ist ihr zuzuschreiben, so widersinnig das klingen mag.«
Als hörte ich mich selbst reden, dachte Leonardo, dessen Interesse nun geweckt war. »Im Winter kommt mir ein Scheiterhaufen weniger schrecklich vor als im Sommer«, sagte er ernst.
Machiavelli nickte. »Im Gegensatz zu einem Dolchstoß, der schmerzhafter wirkt, wenn es kalt ist.« Er lächelte gequält, als er Leonardos Gesichtsausdruck sah. »Gewalt ist mir nicht gänzlich fremd, Meister da Vinci. Ich habe vom Sturz der Medici bis zur Hinrichtung Savonarolas viel in Florenz mitgemacht.«
»Was hat Sie nach Mantua geführt, wenn ich fragen darf?«
»Ach, ich brauchte ein wenig Ruhe und Zeit zum Nachdenken, und dafür bietet sich dieser Ort geradezu an.«
»Es sei denn, die Markgräfin lässt einen nicht in Ruhe.«
»Ich kenne sie kaum. Trotz ihres Reichtums und ihrer Beziehungen spielen sie und ihr Mann auf dem Terrain der Politik keine große Rolle. Aber es klingt ganz so, als hätten Sie schon mit der Marchesa zu tun gehabt?«
»Sie hat mich gebeten, ihr Porträt zu malen.«
»Ein lukrativer Auftrag, vermute ich.«
»Das ist vielleicht das einzig Gute daran.«
»Sie waren doch lange am Hof von Herzog Sforza, nicht wahr?«
Leonardos Augen verengten sich. »Versuchen Sie jetzt, politische Informationen aus mir herauszubekommen?«
»Daran bin ich immer interessiert«, gab Machiavelli unumwunden zu. »Zumal wenn es sich um die krankhaft prunksüchtige Hofhaltung eines der größten Tyrannen von Europa handelt.«
»Der wie ein Hase das Weite gesucht hat, als die ersten französischen Kanonenkugeln in der Nähe seines Schlosses einschlugen.«
»Wenn ich richtig informiert bin, wollte Ludovico Sforza dieser Tage nach Mailand zurückkehren.«
»Ich nicht«, sagte Leonardo. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Ohne die Antwort abzuwarten, bedeutete er dem Wirt, ihnen noch etwas zu bringen. »Erzählen Sie mir mehr über Ihre Politik, ich beginne Interesse daran zu entwickeln.«
Über Machiavellis Gesicht huschte ein leises Lächeln. »Mich beschäftigt unter anderem die Entwicklung des Gemeinwesens. Welche Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass sich ein Staat bildet, zu Macht gelangt und wieder verfällt? Das scheint mir ein so unumgänglicher Zyklus zu sein wie das
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