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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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sich einen der Ecktürme der Villa als Arbeitszimmer eingerichtet, und dort stand La Gioconda in einem Winkel mit dem richtigen Lichteinfall. Nach wie vor stellte ihn die Arbeit nicht ganz zufrieden, und stärker noch als seinerzeit bei dem Bildnis von Magdalena in der Felsengrotte sah er immer wieder Korrekturbedarf.
    Das Vibrieren von Schritten auf dem Holzboden der Terrasse weckte Leonardo, und er schaute verstört auf. Es war Melzi, und er blickte alles andere als fröhlich drein.
    »Schau dir mal das dort hinten an«, sagte er und deutete nach Nordwesten.
    Leonardo sah dichte schwarze Rauchwolken, die sich allmählich am stahlblauen Himmel verloren.
    »Die Liga«, sagte Melzi. »Sie brennen alles nieder. Wer weiß, vielleicht sind sie schon vor Mailand.«
    Feuer und Wasser, dachte Leonardo. Die beiden zerstörerischsten Kräfte der Natur, die sich seit Anbeginn der Zeiten bekämpfen. Davon ging er jedenfalls aus. Er wusste nicht so recht, was er sich unter dem Anbeginn der Zeiten vorstellen sollte. Hatte es so etwas überhaupt je gegeben? Und wenn ja, was war dann davor gewesen? Die Natur gab viele Rätsel auf, wenn man nicht an einen Schöpfer glaubte. Und derlei Rätsel spukten ihm jetzt immer häufiger im Kopf herum.
    »Mailand werden sie schon nicht anzünden«, sagte er. »Was hat man von einer wiedereroberten Stadt, wenn nichts mehr davon übrig ist?« Außerdem wusste er, dass die Truppen von Massimiliano Sforza angeführt wurden, Il Moros ehelichem Sohn. Der dürfte großes Interesse daran haben, die Stadt unversehrt zu lassen, und sei es nur, um dort an das verschwenderische Leben seines seligen Vaters anzuknüpfen.
    Leonardos Annahme bestätigte sich. Angeführt von Massimiliano und dessen Halbbruder Cesare, dem Sohn Cecilia Galleranis, gewann die Liga die Herrschaft über Mailand zurück, und die Sforzas zogen wieder in das Castello ein, in dem ihr Vater so lange das Zepter geschwungen hatte.
    Leonardo wollte von alledem nichts mehr wissen. Ihm behagte der militärische und politische Zirkus immer weniger. Wozu sollte es gut sein, wenn nach so viel Leid und Verzicht, nach Tausenden von Toten und Verstümmelten am Ende wieder alles beim Alten war? Je älter er wurde, desto weniger wollte ihm diese grenzenlose Torheit in den Sinn. Diese Welt war einfach nicht mehr die seine. Was das Ganze noch schlimmer machte, war, dass die seefahrenden Entdeckungsreisenden sehr wohl andere Welten fanden, meistens große Inseln in südlicheren Meeren, wo die Menschen unter geradezu paradiesischen Bedingungen lebten, dass diese Welten aber alsbald zerstört wurden. Man zwang den Menschen dort die eigenen Lebensregeln auf und schleppte furchtbare Krankheiten ein, von denen die Insulaner nie gehört hatten. Und vor allem die Geistlichen schienen es als ihre Lebensaufgabe anzusehen, diese Menschen aus ihrem Paradies zu vertreiben, wie ihrer Glaubensmythologie zufolge einst die ersten Kinder Gottes daraus vertrieben worden waren.
    »Das einzig Gute am Alter ist, dass man darauf hoffen kann, so manche Misere nicht mehr miterleben zu müssen«, hatte er einmal zu Melzi gesagt.
    Jetzt schaute er seinem Sekretär gerade über die Schulter, während dieser seine Skizzen und Aufzeichnungen darauf hin durchsah, was davon ins Reine zu schreiben war. »Ich frage mich, ob das überhaupt einen Sinn hat«, bemerkte er pessimistisch. »Die Wahrscheinlichkeit, dass diese ganze Arbeit in die falschen Hände gerät oder einfach vernichtet wird, ist doch mehr als groß. Vielleicht wäre es besser, gleich alles zu verbrennen.«
    Melzi lehnte sich demonstrativ auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Also verbrennen?«
    Sein sarkastischer Ton entging Leonardo nicht. »Und dich arbeitslos machen? Wer gewährt mir dann Unterkunft?«
    »Salaì vielleicht? Er wohnt schließlich in deinem Haus.«
    »Er hat es jetzt an seinen Vater vermietet und ist selbst fortgezogen. Nach… Wieso erzähle ich dir das eigentlich?«
    »Weil du gern ein wenig plaudern möchtest.« Melzi bückte sich, zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und nahm eine Zeichnung heraus. »Hier, ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er und reichte Leonardo das Blatt.
    Leonardo betrachtete die sorgfältig ausgearbeitete Rötelzeichnung eine ganze Weile mit gerunzelter Stirn. Sie zeigte ihn selbst im Profil, mit langem Bart und langem Haar, die Gesichtszüge entspannt, der Blick offen und klar. Schließlich nickte er. »Nicht das, was ich im Spiegel sehe. Du

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