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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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dazu noch der Papst! Das könnte ein Neubeginn für dich sein!«
    Leonardos Blick folgte einem Milan, der auf dem Suchflug nach Beute tief über der Adda dahinglitt. »Jeder Neubeginn mündet früher oder später in Stillstand…« Er verstummte, als der Milan plötzlich wie ein Stein hinabfiel, um gleich darauf mit Beute in den Fängen wieder aufzufliegen und hinter den Bäumen zu verschwinden. Leonardo konnte nicht sehen, was der Vogel gefangen hatte, aber das interessierte ihn auch nicht so sehr. Was ihn vor allem faszinierte, war dessen Flugakrobatik. Er fragte sich laut: »Wenn Gott uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, kann er dann auch nicht fliegen?«
    »Was hast du gesagt?«
    »Etwas, worüber die, die die Bibel geschrieben haben, offenbar nicht richtig nachgedacht haben.«
    »Weißt du, was ich finde? Dass du unbedingt nach Rom gehen solltest.«
    »Mein lieber Francesco, hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie weit Rom von hier entfernt ist?«
    »Leonardo…«, Melzi seufzte, »es ist weit unter deiner Würde, dich derart der Untätigkeit hinzugeben.«
    »Warum müssen die Menschen ständig hierhin und dorthin? Wäre nicht alles viel einfacher, wenn ein jeder zu Hause bliebe? Hier wächst genug, um das ganze Jahr zu essen zu haben, im Fluss ist Fisch, und es gibt Wild in Hülle und Fülle. Warum sollte man anderswohin gehen?«
    »Wir sind nun einmal keine Feldmäuse, die tunlichst in der Nähe ihres Baus bleiben sollten, um nicht gefressen zu werden.«
    Leonardo ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Rom…« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht erwartet, dass ich je wieder etwas von Lisa hören würde.«
    »Ist sie in natura genauso außergewöhnlich wie auf dem Bild oben?«
    »Ach, wer weiß, sie ist inzwischen auch älter geworden. Modelle halten nicht so lange wie die Bilder, die man von ihnen macht.«
    Leonardo dachte missvergnügt an Verrocchios David . Er gehörte nicht zu den Menschen, die gern daran erinnert werden, wie schön sie einmal waren. Und in dem Zusammenhang kam ihm unweigerlich Michelangelo in den Sinn. Hielt der sich nicht auch in Rom auf? Vielleicht wäre es ja interessant, zu erfahren, was er zu La Gioconda sagen würde. So wie er selbst seinerzeit zur Pietà Stellung bezogen hatte.
    »Vielleicht könnte eine Reise nach Rom ja doch ihren Nutzen haben«, erwog er nun. »Ich werde es mir überlegen.«
    Drei Wochen später ließ Leonardo Melzi einen Brief an Giuliano de’ Medici schicken, um sein Kommen anzukündigen. Sie reisten am folgenden Tag ab.
    Es war Mitte Oktober, als Leonardo mit Melzi und Sofia in Rom eintraf. Während der Reise war es stetig wärmer und sonniger geworden, und in Rom empfing sie geradezu sommerliches Wetter – ein deutlicher Hinweis darauf, wie viel weiter südlich sie sich hier befanden.
    Sie hatten zuletzt kurz vor Rom genächtigt, damit sie frisch in der Stadt ankamen und sich noch rechtzeitig im Vatikan anmelden konnten, in der Hoffnung, dass Giuliano de’ Medici sie am selben Tag empfangen würde.
    Zu Leonardos freudiger Überraschung wurden sie sogleich in das Belvedere gebracht, das auf einem Hügel inmitten weitläufiger Gärten lag. Während Melzi und Sofia mit Erfrischungen versorgt wurden, führte man Leonardo in ein Vorzimmer, das Ausblick auf ein beeindruckendes Bergpanorama bot. Er bekam freilich keine Zeit, dieses Bild auszukosten.
    »Leonardo, du bist also doch gekommen!«
    Die Natur ist nicht gerecht, dachte Leonardo, als er sich umgedreht hatte, um die anzusehen, die ihn so begrüßt hatte. An Lisa waren die Jahre ohne sichtbare Spuren vorübergegangen. Sie war höchstens anziehender geworden. Noch immer kleidete sie sich ganz in Schwarz, jetzt aber ohne Schleier und mit ungewöhnlich tief ausgeschnittenem Dekolleté, das den Ansatz ihrer milchweißen Brüste sehen ließ. Und ihr Blick hatte sich auf subtile Weise verändert. Er zeugte von größerem Selbstbewusstsein, als habe sie ihre eigenen Stärken erkannt.
    Spontan fiel sie ihm um den Hals, trat aber sogleich wieder einen Schritt zurück, als wolle sie ihn nicht in Verlegenheit bringen.
    »Ich freue mich aufrichtig, dich zu sehen«, sagte sie. »Zumal ich in letzter Zeit unter… äh…«, sie schaute sich rasch um, »…nun ja, unter recht gewöhnungsbedürftigen Menschen lebe.«
    »Darf ich fragen, was dich hierhergeführt hat?«
    »Mein Mann konnte sich die Bestellung eines großen Postens Tuch für die Offiziersbekleidung der päpstlichen Armee sichern. Ich bin

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