Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
selbst, mit seinem erschöpften Körper, nicht mehr imstande sein würde, wie er nur allzu gut wusste.
Als schon das Morgengrauen die Nacht gen Westen vertrieb, beschloss Leonardo, Michelangelo das Porträt von Lisa nicht zu zeigen. Es hatte keinen Sinn, dem Mann, der gerade ein solch spektakuläres Großprojekt verwirklicht hatte, dieses kleine, feine, so sehr in die Tiefe gehende Gemälde als mindestens gleichwertiges Gegenstück hinhalten zu wollen. Zumal ihm erstmals deutlich geworden war, dass er keinen Ehrgeiz mehr hatte, sich mit anderen zu messen.
Diese Erkenntnis hatte einerseits etwas Beruhigendes, denn er musste sich selbst und anderen jetzt nichts mehr beweisen. Aber hieß es nicht auch, dass man Träume und Sehnsüchte begrub, wenn man keine Herausforderungen mehr annahm? Hieß es nicht schon ein kleines bisschen sterben?
Als es schließlich ganz hell geworden war, fehlte Leonardo die Lust zum Aufstehen. Er lauschte dem munteren Zwitschern der Vögel, das durch das offene Fenster hereinwehte, und beneidete sie um ihre unschuldige Fröhlichkeit.
Und, wie immer, um ihre Flügel.
Vielleicht sollte ich mich von einem Felsen stürzen und so vom Leben verabschieden, dachte er. Damit ich mich wenigstens dieses eine Mal von dem Joch meines Körpergewichts befreit wähnen kann.
Fliegen, noch so ein Ehrgeiz, den ich aufgeben sollte, dachte er. Ein Gedanke, der von großer Wehmut begleitet war.
Er schloss die Augen und fiel nun doch noch in Schlaf, während ein erster Sonnenstrahl sein Zimmer in goldenes Licht tauchte.
32
Giuliano de’ Medici kehrte einen Tag früher als erwartet zurück, weil er sich ungeachtet seiner vielen Verpflichtungen Zeit dafür nehmen wollte, mit Leonardo Bekanntschaft zu machen, so seine eigene Erklärung.
Giuliano war etwa Mitte dreißig, ein gutaussehender Mann, auch wenn er für einen, der die päpstliche Armee befehligte, nicht sonderlich stark wirkte und ein wenig verträumt dreinschaute. Lisa hatte ihn zutreffend beschrieben, dieser Mann war unverkennbar eher Akademiker und Schöngeist als Militär.
Er machte keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Leonardo und war absolut hingerissen von La Gioconda . Er bot Leonardo sogleich eine aberwitzig hohe Summe für die kleine Tafel, um sich gleich darauf bei Lisa zu entschuldigen, da ja womöglich sie oder ihr Mann Besitzer des Bildes seien.
Lisa machte den Kaufmannstugenden ihres Gemahls wenig Ehre, denn sie räumte freiheraus ein, dass bisher nicht mehr als ein bescheidener Vorschuss für das Werk bezahlt worden sei.
»Dann sind wir uns also einig?« Giuliano de’ Medici sah Leonardo hoffnungsvoll an.
Leonardo schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr erlaubt, möchte ich die Arbeit noch bei mir behalten, Exzellenz. Für mich ist sie noch nicht vollendet.«
»Aber räumen Sie mir dann bitte eine Option für den Erwerb ein.«
Leonardo war erstaunt, dass ein so hochrangiger Mann diese fast schon untertänige Bitte vortrug. Eine Pose? Vorsichtig erwiderte er: »Wenn Madonna Lisa einverstanden ist? Denn letztlich ist ihr Gemahl immer noch der Auftraggeber.«
»Natürlich bin ich einverstanden«, antwortete Lisa prompt. »Ich fühle mich durch Euer Interesse an meinem Porträt außerordentlich geehrt, Exzellenz. Wenngleich ich bescheiden genug bin, zu wissen, dass es zuvorderst die Qualität des Werkes ist, die Euch anspricht.«
Sie saßen an einem Tisch in dem großen, überraschend schlichten Saal des Belvedere, der für Festlichkeiten aller Art genutzt wurde. Ein Lakai hatte ihnen Wein gereicht und eine Silberplatte mit kleinen Leckerbissen aufgetragen. Er stand jetzt diskret bereit, falls sie noch etwas benötigten.
»Die Gesellschaft beider wäre mir am liebsten«, erwiderte Giuliano mit höflicher kleiner Verbeugung in Lisas Richtung. »Die des eleganten Modells und die des Bildes.« Er wandte sich wieder Leonardo zu: »Ich möchte Sie baldigst Seiner Heiligkeit dem Papst vorstellen. Ihm sind meines Wissens schon einige Ihrer Werke bekannt, und er würde Sie gewiss gerne persönlich kennenlernen. Könnten Sie sich dafür freimachen?«
»Ich habe vorerst nichts zu tun.«
»Das könnte sich rasch ändern«, entgegnete Giuliano lächelnd. »Sowohl Seine Heiligkeit als auch ich selbst planen einige Veränderungen und Verbesserungen an den Gebäuden des Vatikans, und der Papst weiß von Ihren Qualitäten als Baumeister. Ich hörte, dass Sie auch als Ingenieur versiert sind.« Es klang nicht wie eine Frage, und er wartete auch
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