Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
schmeichelst mir.«
»Man sollte immer danach streben, die Seele eines Menschen wiederzugeben und nicht seine Maske. Wer sagte das noch gleich?«
Bevor Leonardo darauf antworten konnte, wurden sie von nahem Kanonendonner aufgeschreckt. Das Feuer wurde mehrfach erwidert, dann war wieder alles still.
»Versprengte Franzosen und Söldner der Liga, die sich von diesseits und jenseits der Adda beschießen«, befand Leonardo. Er hatte das von einem Bauern aus der Nachbarschaft gehört. »Hoffentlich ist ihr Pulver verbraucht, bevor sie deine Villa durchlöchern können.« Er legte das Porträt auf Melzis Schreibtisch. »Ich habe in Florenz einmal ein Mädchen gekannt, das Adda hieß. Ich habe sie auch gemalt, sie und ihre Mutter mit ihren beiden Brüdern. Zwei Mal sogar…« Für einen Moment sah er wieder das Bild in jener Grotte vor sich, klar und deutlich und so frisch, als wäre die Zeit dort stehengeblieben.
Wieder waren im Hintergrund Kanonenschüsse zu hören. Sofia erschien in der Tür. Aber das Kampfgetöse schien sie überhaupt nicht zu irritieren. Auch in dieser Hinsicht ähnelte sie Mathurina, die sich nur selten vor etwas gefürchtet hatte.
»Das Essen ist fertig, Meister da Vinci. Möchten Sie draußen auf der Terrasse essen oder im Haus?«
»Es ist zu kühl, um auf der Terrasse zu essen, und ich mag auch keine Kanonenkugel in meiner Suppe«, antwortete Leonardo.
Als Sofia weg war, griff er noch einmal zu der Rötelzeichnung, als sei ihm etwas eingefallen. »Darf ich dieses Kunstwerk an mich nehmen?«
»Es wäre mir eine Ehre.«
»Ach, ich habe schon so viel Krempel in meinem Zimmer, dass es auf ein Blatt mehr oder weniger nicht ankommt.«
»Dein Reichtum an Komplimenten erstaunt mich immer wieder, Meister da Vinci.«
»Es ist lange her, dass du mich so genannt hast.«
»Seit du mich zum letzten Mal an deine Größe erinnert hast, nehme ich an.«
»Größe?« Leonardo zog ein verächtliches Gesicht. »Was ist von mir geblieben, und was bleibt mir noch? Dank dieses törichten Krieges habe ich keine Aufträge, und ich kann froh sein, dass mir mein Sekretär Kost und Logis gewährt.«
»Muss ich jetzt Mitleid haben?«
»Mitleid? Das ist das Letzte, was ich wollte.«
»Vielleicht solltest du einmal bei den neuen Sforzas in Mailand vorsprechen?«
Leonardo seufzte. »Francesco, ich habe mit ihren Feinden zusammengearbeitet! Meinst du etwa, das danken sie mir? Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht einen Kopf kürzer machen. Und, ach, ich habe auch gar keine Lust mehr… Wollen wir essen gehen?«
Melzi nickte. »Du hast mir richtig Appetit gemacht.«
Wenige Wochen später erhielt Leonardo einen Brief aus Rom. Ungläubig las er den Namen des Absenders: Lisa Gherardini del Giocondo. Sie halte sich gerade am Hofe Giuliano de’ Medicis auf, der »außerordentlich großes Interesse« an dem Bild habe, das »Meister da Vinci« von ihr gemacht habe, und das Werk vielleicht für einen ansehnlichen Betrag kaufen wolle. Ob Leonardo die Tafel, falls sie denn noch in seinem Besitz sei, nach Rom bringen könne? Und falls er das Werk an Dritte verkauft haben sollte, ob er dann vielleicht eine Kopie davon machen könne? Außerdem wolle auch Giulianos Bruder, der frischgekürte Papst Leo X. , gern ein Porträt von seiner Cousine machen lassen. Zu guter Letzt lockte Lisa noch damit, dass Giuliano de’ Medici ein äußerst gebildeter Mann sei, ein »Denker« mit besonders großem Interesse an der Wissenschaft und verwandten Bereichen. Leonardo könne Unterkunft und Arbeitsraum im Belvedere des Vatikans bekommen. Ihren Ehemann erwähnte Lisa mit keinem Wort.
»Es ist mir nicht vergönnt«, sagte Leonardo laut, als er den Brief gelesen hatte. Und als Melzi fragend aufschaute: »Dass ich ruhig vor mich hin faule, meine ich.« Er gab dem anderen den Brief und trat ans Fenster, um sinnierend hinauszuschauen.
Ein Porträt seiner Cousine!, dachte er missfällig. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei ihr doch um die Lieblingsmätresse des Papstes. Gewiss keine leichte Wahl, wenn man etwa siebentausend Prostituierte zur Verfügung hatte, die ihr Geschäft in der Nähe des Vatikans betrieben…
Melzi fragte in seinem Rücken: »Wer ist denn diese Dame?«
»Diese Dame? Oh, la Gioconda.« Leonardo schmunzelte in sich hinein. »So nenne ich sie zumindest. Sie wohnt schon sehr lange bei uns, oben in meinem Arbeitszimmer.«
»Leonardo, weißt du eigentlich, was das hier bedeutet? Giuliano de’ Medici! Und
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