Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
schließlich schwoll die Zehe bei jedem längeren Gang an, und die Schmerzen wurden so unerträglich, dass ohne Stock keine Fortbewegung mehr möglich war. Ein Stock war aber nur etwas für alte Männer, wie Leonardo fand, und deshalb benutzte er ihn höchstens heimlich im Haus oder wenn er allein durch die verwilderten Vatikangärten streifte. Bis ihm selbst das zu schmerzhaft wurde.
Ganz so, als inspirierten ihn diese Einschränkungen, begann Leonardo wieder zu zeichnen, und zwar an Darstellungen der Sintflut, wie sie ihm in seinen schlimmsten Träumen erschienen war. Vor der Staffelei sitzend, diktierte er Melzi:
»…wie die finstere und wolkenerfüllte Luft von Winden gepeitscht wird, die eingehüllt sind vom unaufhörlichen Regen und die zahllose Äste zersplitterter Bäume bald hierhin, bald dorthin wirbeln. Man sieht uralte Bäume, von der Wut der Winde entwurzelt und weggezerrt, man sieht Felstrümmer von Bergen, deren Grundfesten vom Lauf der Flüsse ausgehöhlt worden sind, und die Wasser treten über die Ufer und überschwemmen viele Gegenden samt ihrer Bevölkerung. Welch grauenvolles Getöse dazu in der Luft, die von der Wut der Donner und rasenden Blitzen erschüttert wird…«
Leonardo wartete, bis Melzi so weit war und abwartend aufschaute. »Das Schreiben ist so viel umständlicher als das Malen oder Zeichnen«, stellte er fest. »Mit einem einzigen Pinselstrich kannst du mehr sagen als mit tausend Worten.«
Melzi nickte. »Das Wort ist in der Tat unzulänglich, wenn es auch bisweilen schneiden kann wie das schärfste Messer.«
Leonardo starrte auf den Papierbogen, den er auf der Staffelei befestigt hatte, und die wüsten schwarzen Kreidestriche darauf, die den Ansatz zu seinem großen Alptraumpanorama darstellten. Faszinierend unbändig, so hatte er das Wasser von jeher empfunden. Aber es konnte auch zum alles verschlingenden Ungeheuer werden…
»Und doch sind auch Gemälde unvollkommen«, sagte er. »Selbst die allerbesten. Weißt du, warum?« Leonardo sah Melzi an, der schweigend wartete. »Weil Bilder sich nicht bewegen. Sie sind nur erstarrte Momentaufnahmen. Im nächsten Moment könnte alles wieder ganz anders aussehen.«
»Aber ist es nicht auch wichtig, diesen einen Moment festzuhalten?«
Leonardo nickte. »Zweifellos, doch als viel wichtiger erschiene es mir, Bewegung festhalten zu können!«
Und sei es nur, weil man sich selbst nicht mehr bewegen kann, dachte er missmutig, während er sich vorbeugte, um seinen rechten Fuß zu massieren.
»Der Apotheker hat empfohlen, Kompressen mit einem Extrakt aus den Blüten des Steinklees aufzulegen.«
»Hast du mit dem Apotheker über mich gesprochen? Seit wann bist du so indiskret?«
»Seit ich mich mehr und mehr um dich sorge!«, erwiderte Melzi so heftig, dass Leonardo erschrak. »Wegen deiner Schmerzen, wegen deiner trübsinnigen Gedanken, über die du nicht sprechen willst, wegen deiner starrköpfigen Weigerung, dir helfen zu lassen…« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe immer den Tag gepriesen, da ich dir begegnet bin. Aber in letzter Zeit…«
»Nichts hindert dich daran zu gehen. Du brauchst mich nicht.«
»Du brauchst mich .«
»Seit wann bist du so anmaßend?«
»Anmaßend? Soll ich dich etwa wieder Meister nennen?«
Leonardo hörte auf, seinen Fuß zu massieren, und richtete sich auf. »Manchmal ist es gut, sich zu streiten, das entspannt Körper und Geist.«
Melzi seufzte. »Du bist ein hoffnungsloser Fall.«
»Die ganze Welt ist hoffnungslos, Francesco. Wenn ich daran denke, dass Giuliano jetzt nach Frankreich gereist ist, um dort zu heiraten! Wozu dann erst die Franzosen von hier vertreiben?«
»Ach, das ist nichts weiter als eine politische Heirat, wie sie zu Dutzenden geschlossen werden. Mit Sicherheit vom Papst eingefädelt – und nun, da Franz I. Ludwig XII . auf den Thron gefolgt ist, eine ausgezeichnete Wahl. Die Braut ist schließlich dessen Tante!«
»Ich hatte von Giuliano anderes erwartet…« Leonardo brütete vor sich hin. »Er hat Entwürfe von mir mitgenommen, für einen mechanischen Löwen. Wenn man ihn geschickt baut, kann er sich selbsttätig bewegen. Und dann öffnet er automatisch die Brust, um einen Strauß Lilien zu präsentieren. Der Löwe ist ein Symbol von Florenz, und die Lilien sind das Wappenbild der Könige von Frankreich.«
Melzi nickte. »Die ideale Symbolik für die neue Verbindung zwischen den Medici und dem französischen Königshaus. Aber wo wir gerade bei Entwürfen sind: Ich
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