Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
mitspielten, obwohl das gegen die Regeln verstieß. Leonardo vergaß, dass es um einen Wettstreit ging, und gab sich ganz seiner Musik hin. Als er geendet hatte, ertönte von der Tribüne her sogar anerkennender Applaus.
Dennoch hatte Leonardo mit seiner Einschätzung ganz richtiggelegen, denn nach kurzer Beratschlagung auf der Tribüne wurde das neunjährige Bübchen unter lautem Beifall zum Sieger ausgerufen. Leonardo wurde Zweiter, was außer ihm selbst niemanden zu überraschen schien.
Ich hätte vielleicht sogar Erster werden können, wenn ich intensiver geübt hätte, dachte er verwundert. Aber welcher Ehrgeiz, ein neunjähriges Kind besiegen zu wollen! Er dachte an Adda, die ihn seinerzeit mit der lira da braccio bekannt gemacht hatte. Sie hätte hierhergehört, dachte er. Der Gedanke, dass sie als Frau es all diesen selbstgefälligen Saitenzupfern gezeigt hätte, ließ ihn unweigerlich schmunzeln.
»Wie ich sehe, hat dir die Sache Spaß gemacht, Meister da Vinci.«
Leonardo erhob sich eilends, als er bemerkte, dass es Ludovico Sforza war, der ihn angesprochen hatte. Die anderen Teilnehmer schoben sich bereits dem Ausgang zu, denn in den angrenzenden Räumlichkeiten sollte noch gefeiert werden.
»Ich bitte um Entschuldigung, Exzellenz, ich war in Gedanken versunken.«
»Herzlichen Glückwunsch zu deinem zweiten Platz. Du hast also nicht gelogen, ja nicht einmal übertrieben, als du deine Musikalität anführtest. Wenn das gleichermaßen für die anderen Fähigkeiten gelten sollte, mit denen du dich bei mir anzupreisen versuchtest, verstehe ich, woher die Gerüchte über deine Genialität rühren, die mir zu Ohren gekommen sind.«
»Zu viel der Ehre, Exzellenz, ich…«
Sforza hob gebieterisch die Hand. »Hiermit ernenne ich dich zum Hofmusiker.«
»Eine Ernennung zum Hofmusiker?« Bernardo Bellincioni schmunzelte. »Das dürfte wohl das Letzte sein, was du erwartet hattest.«
Es war einige Tage nach dem concorso , und sie saßen auf Leonardos Lieblingsplatz am Teich.
»Ach, ich habe ein Dach über dem Kopf und verdiene hin und wieder etwas mit meiner eigenen musikalischen Unterhaltung. Alles in allem kann ich mich nicht beklagen.«
»Du hast verdammt wenig Ehrgeiz, mein Lieber.«
Leonardo schüttelte langsam den Kopf. »Vielleicht ist das, was ich anstrebe, einfach unerreichbar, und deshalb lasse ich es lieber gleich bleiben.«
»Eine wunderbare Ausrede für Faulpelze«, meinte Bellincioni. »Wirklich kaum zu übertreffen. Das fällt in die gleiche Kategorie wie: Ich habe so schrecklich viel zu tun, dass mir fast keine Zeit zum Arbeiten bleibt.«
Leonardo lachte. »Und von wem ist das?«
»Von mir.«
Ins Wasser des Teichs starrend, knüpfte Leonardo an: »Ich möchte Bilder und Statuen von nie da gewesener Schönheit machen. Aber ich habe immer wieder das Gefühl, dass mein Talent nicht ausreicht, um mehr als nur mittelmäßig zu sein, um Werke zu schaffen, denen jedermann, vom Bettler bis zum Kaiser, Bewunderung zollt, um… um…« Leonardo brach ab. Wie sollte er ausdrücken, dass er eine Kunst schaffen wollte, die größer sein würde als das Leben selbst, die überdauern würde, weit über die Jahre hinaus, die ihm selbst vergönnt sein würden? »Ach, ich möchte so vieles«, murmelte er.
»Dann musst du aber schon irgendwann damit anfangen, Leonardo.«
»Vielleicht mache ich ja das Bronzestandbild, von dem Il Moro zu träumen scheint…«
»Wenn das kein ehrgeiziges Vorhaben ist! Ein Bronzestandbild von der Größe hat man noch nie gesehen. Wegen der technischen Schwierigkeiten wagt sich da kein Bildhauer heran.«
»Unlösbare Konstruktionsprobleme kann ich nicht erkennen.«
»Hm, dein Kopf ist gewiss weniger untätig als deine Hände.«
Ich bin gar nicht untätig, dachte Leonardo, sondern vielmehr ungeduldig. Ich habe häufig schon wieder andere Dinge im Kopf und verliere deshalb mittendrin das Interesse an einer Arbeit, die ich dann nicht vollende.
Nachdem Bellincioni gegangen war, schlug Leonardo sein Notizbuch auf. Er hatte schließlich doch damit begonnen, die Bewegungen des Wassers in dem von dem künstlichen Wasserfall aufgewirbelten Teich festzuhalten. Diese Bewegungen waren seiner festen Überzeugung nach nicht willkürlich, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so aussehen mochte. Man konnte immer wiederkehrende Muster darin erkennen, und er wollte aufzeichnen und erkunden, wie diese Muster verliefen und wodurch sie ihre komplexen Formen annahmen.
Ein Lakai
Weitere Kostenlose Bücher