Der Maler Gottes
oder den Silberstift halten, hat sich längst eine dicke Schicht Hornhaut gebildet. Er fühlt sich wie ein Blinder, in dessen Innerem Bilder danach drängen, ans Licht zu gelangen, die noch im Dunkeln bleiben müssen. Rastlos ist er, rastlos, weil er noch nicht so malen kann, wie er gern möchte. Wenn die Gesellen und der Meister am Abend zum Umtrunk ins nächste Wirtshaus gehen, macht sich Matthias oft auf den Weg in die Kirche. Lange sitzt er vor dem Altar, doch nicht um zu beten. Er betrachtet die Altarbilder, studiert deren Komposition, studiert den Ausdruck in den Gesichtern der Heiligen, wagt erste Kopien, die er noch niemandem zeigt. Denn irgendetwas stört ihn an allen diesen Bildern, etwas, das er nicht greifen, nicht artikulieren kann. Ein Gefühl nur. Die Bilder berühren ihn nicht, sprechen nicht zu ihm, sind bloße Abbildungen ohne Botschaft, ohne die farbige Lebendigkeit, die er sucht. Er erkennt den Jesus am Kreuz, weil er weiß, dass es sich nur um Jesus handeln kann. Aber er erkennt ihn, den Gottessohn und Menschensohn, nicht am Ausdruck. Er sieht Maria mit dem Kind, doch er sieht darin nur die farblose, flache Abbildung irgendeiner Frau mit irgendeinem Kind und erkennt darin dasselbe Unvermögen in der Darstellung wie in seiner eigenen Zeichnung. Meister Fyoll beobachtet Matthias. Er sieht, dass der junge Mann auf der Suche ist. Er sucht nach etwas, was er ihm nicht geben kann, etwas, was über die Erlernung der neuen Techniken hinausgeht. Doch der Junge ist schweigsam, beinahe in sich gekehrt, spricht wenig. Wie soll er ihm helfen?
An einem sehr heißen Sommertag, an dem die Luft in der Werkstatt zum Schneiden dick ist und der Pinsel zwischen den feuchten Fingern klebt, klopft eine Frau an die Werkstatttür. Sie sagt wenig, nennt nur Matthias’ Namen und hält dabei ein Kleinkind auf der Hüfte, das an ihren strohigen Haaren zieht. Der Meister ruft Matthias und bleibt in der Nähe der Tür stehen, um zu hören, was diese seltsame Frau von ihm will.
»Magdalena kommt«, flüstert sie hastig. »Zwei Wochen nach Bartholomäus, zur Herbstmesse, wird sie hier sein. Kommt am ersten Messtag nach dem Abendläuten hinunter zum Main. Sie wartet auf Euch an der Heilig-Geist-Pforte.«
Matthias nickt nur, fragt nicht, woher die Nachricht stammt. »Danke«, sagt er und: »Gott schütze Euch.« Die Frau dreht sich um und geht. Matthias kehrt zu seinem Skizzenblock zurück und zeichnet eine Schale mit rotbackigen Sommeräpfeln, als ob nichts gewesen wäre. »Wer war die Frau?«, fragt Fyoll. »Sie sieht dem Mädchen auf deiner Zeichnung ähnlich.«
»Sie ist ihre Mutter«, antwortet Matthias knapp und denkt an seinen Besuch im Küsterhaus zurück, als er sein Versprechen, Magdalenas Mutter die Zeichnung zu bringen, eingelöst hat. Matthias denkt an die Enge und Dumpfheit im Küsterhaus, an den brutalen Mann, der selbst in seiner Gegenwart Frau und Kinder geschlagen hat. Dort, in der Petersgasse, hat er verstanden, warum Magdalena selbst eine Tätigkeit in der Mühle dem Leben im Küsterhaus vorzieht. Und er ahnt, woher die Narbe stammt, die ihr Gesicht zeichnet. Noch näher ist ihm Magdalena seit seinem kurzen Besuch bei ihrer Mutter. Auch sie ist gegangen. Gegangen wie er. Geflohen aus der Enge und auf der Suche nach Licht, Liebe und Leben. Und genauso wenig wie er hat sie bisher gefunden, was sie sucht.
Die Zeit bis zur Herbstmesse scheint ihm doppelt so lang wie gewöhnlich. Jede Nacht vor dem Einschlafen denkt er an Magdalena, versucht, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Doch ein halbes Jahr ist vergangen, seit er sie in der Mühle getroffen hat. Ihr Bild in ihm verwischt, verliert Konturen, ist in Gefahr, sich bald ganz aufzulösen. Nur manchmal, wenn die untergehende Sonne auf das Schieferdach der nahen Kirche scheint, erkennt er in ihren Strahlen den Glanz von Magdalenas Haaren. Er hat sie inzwischen so oft heimlich gezeichnet, dass ihm jede Linie ihres Gesichtes vertraut scheint, die Form der Augen, des Mundes, die fleischigen Wangen, die wulstige Narbe. Doch allen seinen Zeichnungen fehlt das Entscheidende: der Ausdruck, die Botschaft, die farbige Lebendigkeit.
Es will und will Matthias einfach nicht gelingen, Magdalenas unverschuldete Doppelgesichtigkeit, innerlich vorhanden durch die groteske Verbindung von Hure und Heiliger, äußerlich sichtbar durch die entstellende Narbe auf dem Kindergesicht, darzustellen. Ich muss sie sehen, denkt er. Ich muss sie unbedingt sehen, muss schauen, wie
Weitere Kostenlose Bücher