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Der Maler Gottes

Der Maler Gottes

Titel: Der Maler Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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seine Sinne sind auf die Auslage des Buchdruckers gerichtet.
    Besonders ein Kupferstich hat es ihm angetan. Er zeigt die Grablegung Jesu mit Maria und Magdalena. Matthias steht über den Stich gebeugt, spürt nicht seinen schmerzenden Rücken, hört nicht den Lärm in der Gasse. Er sieht nur diesen Stich, prägt sich jede Linie, jedes Detail ein, als gelte es, das Gesehene in sein Hirn einzubrennen. Ja, das ist es, was er so lange gesucht hat! Mantegna hat den Ausdruck des unfassbaren Schmerzes in Marias Gesicht gelegt, Magdalenas namenloses Leid, die unerträglichen Qualen der Kreuzigung und die Erlösung im Tod des Herrn dargestellt. Ihm ist gelungen, was Matthias bisher noch nirgends gesehen hat: Gesichter, die leben, Figuren, die weit über die bloße Abbildung hinausgehen, die Geschichten erzählen, in ihrer Plastizität wie lebendige Menschen wirken. Eindringlich und so nah, als wäre die Szenerie Wirklichkeit, als wäre der Betrachter des Blattes heimlicher und direkter Zuschauer der Grablegung. Ohne dass Matthias es bemerkt, treten ihm Tränen in die Augen, rollen über seine Wangen und versickern in seinem Wams. Er ist ergriffen, ist bis ins Innerste berührt. Ja, das ist der Jesus, den er kennt, das ist die Maria, an die er glaubt, und da ist Magdalena, die heilige Hure, die selbst am Grab noch um ihre längst vergangene Schönheit weiß. Eine Magdalena wie die seine, doch viel älter als sie. Jetzt weiß er, dass es geht. Jetzt weiß Matthias, dass es möglich ist, Bilder und Zeichnungen mit Leben zu erfüllen. Er muss nur hinschauen, jeden Punkt des Stiches in sich aufnehmen, um hinter Mantegnas Geheimnis der Darstellung zu kommen.
    Eine Stunde fast steht er so, regungslos, die Augen auf den Stich gerichtet, als wolle er allein mit seinen Blicken Löcher in das Papier brennen, dann richtet er sich plötzlich auf, holt mit fliegenden Händen einen gerollten Papierbogen und einen Silberstift aus seinem Bündel und kopiert den Stich Mantegnas Linie für Linie und so gut er eben kann.
    Er hört nicht das Abendläuten, bemerkt nicht, dass sich die Gasse langsam leert, achtet nicht auf den Händler, der allmählich seine Waren zusammenpackt. Auch Magdalena, die jetzt an der Heilig-Geist-Pforte auf ihn wartet, hat Matthias vergessen.
    Erst der Messeläutner, der die letzten Händler und Besucher mit der Glocke in der Hand an das Ende des Messetages erinnert, reißt ihn aus seiner Arbeit. Matthias schaut so verstört um sich, als wäre er gerade aus tiefem Schlaf erwacht. Nur allmählich kehrt er in die Gegenwart der Buchdruckergasse zurück, das Blatt und den Stift noch immer in der Hand haltend. Der Händler betrachtet ihn lächelnd und greift nach dem Kupferstich Mantegnas, um ihn ordentlich bis zum nächsten Messetag zu verstauen. Als er nach dem Blatt greift, fällt ihm Matthias in den Arm.
    »Seid Ihr morgen wieder an dieser Stelle?«, fragt er drängend.
    Der Händler nickt. »Wollt Ihr morgen weiter zeichnen? Kaufen sollt Ihr den Stich, nicht kopieren. Ich muss auch leben.«
    Dann nennt er den Preis für das Blatt. So hoch, dass Matthias nicht glaubt, ihn jemals in seinem Leben zahlen zu können.
    Der Händler weiß das längst, hat es auf den ersten Blick gesehen.
    »Morgen will ich Euch hier nicht treffen«, sagt er bestimmt. »Ihr verscheucht mir die Kunden. Heute habe ich Euch gelassen, weil mich Eure Begeisterung gerührt hat. Doch ich bin hier, um Geschäfte zu machen. Mit Begeisterung kann ich meinen Magen und die meiner Kinder nicht füllen.«
    Matthias antwortet nicht, sondern wendet sich ab und geht blicklos die Gasse hinab, in Gedanken noch immer bei dem Kupferstich. Als er auf den Römerberg gelangt, bemerkt er, dass er noch immer das Blatt und den Stift in der Hand trägt. Umständlich und so, als wäre es eine seltene Kostbarkeit, rollt er das Blatt zusammen und will es in seinem Bündel verstauen, da ertastet er plötzlich mit den Fingern die Hornspange, die er für Magdalena gekauft hat. Er erschrickt. Magdalena! Sie wollte ihn zum Abendläuten treffen! Er hat es vergessen, hat über dem Kupferstich das Mädchen vergessen. Wie von tausend Teufeln gehetzt, jagt er durch die noch immer belebten Gassen hinunter zur Heilig-Geist-Pforte. Im Laufen betet er: »Herr im Himmel, lass sie auf mich warten. Lass Magdalena noch nicht weggegangen sein. Herr, ich bitte dich.«
    Doch der Herr hat sein Gebet nicht erhört. Verlassen liegt der kleine Platz vor der Heilig-Geist-Pforte, nur die Geräusche vom

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