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Der Maler Gottes

Der Maler Gottes

Titel: Der Maler Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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Am Gesprenge und am Aufsatz arbeiten die Gesellen nach seinen und Hagenaus Anweisungen, führen sorgsam die feinen Schnitzereien aus. Am Abend streift Matthias durch die Gegend. Hier, in den sanften Ausläufern der Vogesen, findet er Ruhe und Stille zum Nachdenken. Noch immer weiß er nicht, was ihn in Isenheim hält. Die Arbeit mit dem wortkargen Hagenau ist nach seinem Geschmack, das Leben der Antoniter vertraut, an die Siechen im Hospital hat er sich gewöhnt. Warum also sollte er weg von hier? Es gibt keinen Grund. Natürlich gibt es keinen Grund. Aber einen Grund für sein Festhalten, den muss es geben. Und dieser Grund ist so einfach, dass Matthias ihn fast übersehen hätte: Er ist glücklich in Isenheim. Glücklich wie noch nie in seinem Leben. Heimisch, er fühlt sich heimisch in Isenheim. Es ist, als ob er hierher gehört, schon immer hierher gehört hat, nur weg war für eine Zeit und nun nach Hause zurückgekehrt ist. Guido Guersi. Ein Großteil von Matthias’ Wohlbefinden verbindet sich mit dem Präzeptor. Es ist Liebe, die der junge Maler für den alten Mann empfindet. Nicht bloße Zuneigung, sondern Vertrauen, großes, umfassendes Vertrauen.
    Bei Holbein war Matthias ein – zumeist – höflicher Schüler, Ratgeb ein aufrichtiger Freund, Riemenschneider ein achtender Sohn, Reizmann ein rätselhafter Bruder. Können Menschen einander nicht näher kommen? Sich nicht mehr öffnen? Einander nicht mehr sagen? Wie oft hat er diese Sätze gedacht? Wie oft sich einen Menschen gewünscht, dem er sich offenbaren kann, zeigen kann, wie er ist, mit allen Schwächen, allen Tiefen, allen Zweifeln und allen Fragen, ganz und gar ohne Angst? Und nun Guido Guersi. Welches Glück, sich ganz und gar durchschaut und doch geliebt und verstanden zu wissen! So muss auch die Liebe Gottes sein, die Liebe, nach der er noch immer sucht. Hier in Isenheim erhält er eine Ahnung davon. Gottes Liebe muss sein wie die Liebe des alten Präzeptors: allumfassend, allwissend, allverstehend, allgültig und allverzeihend.
    Was sagte ihm Guersi beim letzten Gespräch? »Liebe kann man dem Wesen nach nur durch einen anderen Menschen empfinden. Ja, der Mensch selbst kann sich nur durch einen anderen Menschen empfinden. Sogar der Ausdruck der Liebe Gottes bedarf des Menschen, denn Gott hat keine anderen Hände als die der Menschen.«
    Und eines Abends, Matthias ist seit einem halben Jahr bei den Antonitern, fragt er den Alten auch nach der Entlassung aus der Schuld. Ratgebs Antwort hat ihm nicht genügt. Er, Matthias, empfindet seine Arbeit nicht als Schuldabtragung. Er malt und schnitzt, weil er malen und schnitzen muss. Er kann nichts anderes, hat nie etwas anderes gewollt. Pinsel, Palette, Mörser, Farben, Geißfuß, Hohlbeitel und all die anderen Werkzeuge sind für ihn Lebensmittel. Mittel zum Leben, Dinge, die ihn jeden Morgen erneut dazu bewegen, aufzustehen und sich dem Tag zu stellen. Erfüllung findet er also nur dann, wenn ihm etwas Außergewöhnliches gelungen ist. Selten, viel zu selten noch verspürt er dieses Glücksgefühl. Und auch darüber spricht er mit dem väterlichen Freund. Guido Guersi schweigt lange, ehe er antwortet. Man sieht seinem Gesicht an, dass er Wichtiges zu sagen hat und nach behutsamen Worten sucht.
    Schließlich beginnt er, legt dabei seine fast durchsichtige, von dunklen Adern durchzogene und mit Altersflecken bedeckte Hand auf den Arm des Jüngeren. »Matthias«, sagt er beschwörend und sehr ernst. »Du könntest noch mehr erreichen, eines Tages. Wenn du nicht mehr wehleidig und ängstlich bist und dich davor fürchtest, dich bis ins tiefste Innere aufwühlen zu lassen, dann erst wirst du wahre Wunder in der Kunst bewirken. Doch wenn du weiter an der Oberfläche des Tages hängen bleibst und es nicht wagst, in die Nacht deiner Seele einzutauchen, wirst du niemals mehr als ein ausgezeichneter Handwerker sein. Der Sieg der Harmonie des Geistes und der Seele über den Stoff, das ist deine Lebensaufgabe, ist die Aufgabe von jedermann.«
    »Ich bemühe mich, ich ringe, ruhe nicht«, erwidert Matthias.
    Guersi lächelt leise: »Der Sieg der Harmonie des Geistes heißt nicht ringen, nicht kämpfen, sondern im Gegenteil loslassen, fallen lassen, hingeben.«
    Er sieht Matthias an und schweigt einen Augenblick, ehe er weiterspricht: »Dem geschnitzten Altarschrein fehlen noch Tafeln. Ich suche nach einem Maler dafür. Du könntest es sein, Matthias, aber noch bist du nicht so weit.«
    »Ich verstehe Euch nicht,

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